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Der Westen scheitert in Afghanistan – und sie lassen die Korken knallen

Der Westen scheitert in Afghanistan – und sie lassen die Korken knallen

Bild: keystone/watson
Nach dem Sieg der Taliban freuen sich Mächte wie China und Russland über ein Tor nach Afghanistan. Der Westen hat nicht nur das Land verloren, sondern auch an Glaubwürdigkeit. Der Schaden ist immens.
19.08.2021, 18:11
Patrick Diekmann / t-online
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Ein Artikel von
t-online

Der Schock sitzt noch immer tief. Die Schnelligkeit des Vormarsches der Taliban am Hindukusch hat viele westliche Politiker überrascht. Sie treten in dieser Woche verbittert vor Kameras, gestehen Fehleinschätzungen ein.

Das Scheitern der Afghanistan-Mission war schon länger klar, aber spätestens seitdem sich verzweifelte Afghanen in Todesangst an Flugzeuge der westlichen Streitkräfte klammerten, ist aus einer Niederlage ein historisches Debakel geworden.

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Fataler Schaden mit langfristigen Folgen

Aktuell liegt der Fokus zu Recht auf dem Schicksal der afghanischen Bevölkerung. Es geht um die Rettung der Ortskräfte, die die westlichen Streitkräfte in den letzten Jahrzehnten unterstützt haben. Und es geht um die Wahrung der Menschen- und Frauenrechte im Land, die durch die Taliban ernsthaft gefährdet sind. Kurz: Für den Westen hat momentan Schadensbegrenzung oberste Priorität.

Aber auch über die schrecklichen Ereignisse am Hindukusch hinaus ist der Schaden schon jetzt immens und wird die internationale Politik noch viel länger begleiten als die augenblickliche Krise. Die Welt schaut dabei zu, wie die USA und ihre Verbündeten international weiter an Glaubwürdigkeit verlieren. Auch die geostrategischen Folgen sind fatal: Afghanistan wurde nicht nur quasi in die Hände der Taliban gegeben, sondern vor allem Russland und China werden ihren Einfluss in Afghanistan ausweiten.

Damit hat die westliche Allianz Mächten das Tor ins Land geöffnet, die sich weniger für Menschenrechte und Demokratie interessieren und vielmehr vor allem ihre wirtschaftlichen und strategischen Vorteile suchen. Während der Westen aus dem Land flieht und die Taliban ihre Macht in Kabul festigen, knallen in Peking und Moskau die Korken.

Rückschlag für Demokratie und Menschenrechte

So verliert der Westen an Vertrauenswürdigkeit für künftige Einsätze. Warum sollen lokale Gruppierungen mit dem Westen kooperieren, wenn sie am Ende im Regen stehen gelassen werden? In Syrien liessen die USA schon die Kurden im Stich, nun ist es der pro-westlich eingestellte Teil der afghanischen Bevölkerung.

Verlässlichkeit ist in der internationalen Politik oft wichtiger als die Art des politischen Systems. So hat beispielsweise Wladimir Putin in Syrien bewiesen, dass er bis zum Ende bereit ist, seine Schutzversprechen einzuhalten. Das hatte internationale Signalwirkung, genau wie es nun das Afghanistan-Desaster für den Westen haben wird.

Weiterhin wird es auch Folgen für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus haben, weil Regierungen möglicherweise weniger innerstaatliche Konflikte riskieren, wenn sie nicht auf westliche Unterstützung bauen können. Und es hat Folgen für Länder, die ideologisch zum Westen tendieren, aber den Schutzversprechen nicht mehr glauben können.

Im Ringen um die ideologische Vorherrschaft sind die Ereignisse in Afghanistan demnach ein schwerer Schlag für Demokratie und Menschenrechte.

Wer gewinnt Einfluss über Afghanistan?

Klar ist: Das Kräftegleichgewicht im Mittleren Osten wird sich ändern. Aber wer verfolgt welche Interessen? Und wie blicken die Taliban auf die einzelnen Akteure? Eine Übersicht:

China

In this photo provided by China's Xinhua News Agency, Chinese President and party leader Xi Jinping delivers a speech at a ceremony marking the centenary of the ruling Communist Party in Beijing, ...
China wird seinen Einfluss in der Region ausbauen wollen.Bild: keystone

Peking wird das westliche Debakel in Afghanistan als grosse Chance sehen. Nicht umsonst hat die Volksrepublik angekündigt, die vermeintliche Entscheidung der afghanischen Bevölkerung für eine neue Herrschaft durch die radikal-islamischen Taliban respektieren zu wollen. Dabei unterdrückt China im eigenen Land mit Gewalt die muslimische Minderheit der Uiguren.

Die Taliban versprechen sich von guten Beziehungen zu China wahrscheinlich vor allem Geld und die Möglichkeit, Teil der Seidenstrasse zu werden. Deshalb gab es schon vor Monaten Treffen zwischen den Taliban und der chinesischen Regierung. 

Für die Volksrepublik ist Afghanistan eine Möglichkeit, ihren Einfluss in der Region auszubauen und auch vermehrt als Ordnungsmacht im Mittleren Osten aufzutreten. Ausserdem spekuliert das energiehungrige China auf Rohstoffe und seltene Erden in Afghanistan. 

Letztlich wird Peking versuchen, jegliches Zurückweichen des Westens zu nutzen. 

Russland

epa09419278 Russian President Vladimir Putin during a working video confrence meeting at Novo-Ogaryovo state residence, outside Moscow, Russia, 18 August 2021. EPA/ALEXEI NIKOLSKY/SPUTNIK /KREMLIN / P ...
Wladimir Putin geht im eigenen Land mit Härte gegen islamistische Gruppen vor.Bild: keystone

Auch Moskau wird in Afghanistan als zentraler ordnungspolitischer Akteur auftreten. Das ist nicht ganz ohne Ironie, denn viele Taliban gehörten zu den Mudschaheddin-Kämpfern, die ab 1979 gegen die Sowjetunion kämpften und triumphierten.

Anders als im Fall von China berührt Afghanistan konkrete russische Sicherheitsinteressen, denn Moskau sieht den Islamismus am Hindukusch als Bedrohung, die die Sicherheitslage etwa in Usbekistan, Tadschikistan oder im südlichen Kaukasus verschärfen könnte. Putin geht im eigenen Land mit Härte gegen islamistische Gruppen, wie in Tschetschenien, vor.

Deshalb lud auch Russland Vertreter der Taliban ein und zeigt sich gesprächsbereit. Putin geht es ebenfalls um Einfluss und Rohstoffe. Er könnte mit nicht-militärischen Mitteln dort erfolgreich sein, wo die Sowjetunion gescheitert ist.

Die Taliban geben sich gegenüber Russland vorerst pragmatisch und hoffen auf finanzielle Unterstützung, wenn die Hilfsgelder aus dem Westen wegfallen. Durch ihren Kampf gegen die sowjetischen Truppen in der Vergangenheit und da Russland ein mehrheitlich christliches Land ist, herrscht dabei jedoch auch grosses Misstrauen, vor allem unter den Hardlinern der Islamisten.

Pakistan

epa09413412 A Pakistani boy holds a national flag during Independence Day celebrations in Peshawar, Pakistan, 14 August 2021. Pakistan celebrates its 74th Independence Day on 14 August since it became ...
Pakistans Beziehungen zu Afghanistan werden sich mutmasslich deutlich verbessern.Bild: keystone

Auch für das Nachbarland von Afghanistan ist der Abzug der westlichen Truppen Grund zur Freude. Pakistan betrieb die vergangenen 20 Jahre eine Art Pendeldiplomatie. Einerseits ging man im eigenen Land – wenn auch sehr halbherzig – mit Verhaftungen gegen Taliban vor. Das geschah jedoch primär aus Angst, dass Pakistan selbst zum Ziel von US-Angriffen werden könnte.

Andererseits diente Pakistan für die Taliban als Rückzugsmöglichkeit, ohne die sie von der westlichen Allianz vollständig besiegt worden wären. Taliban-Angriffe in Afghanistan wurden teilweise aus dem Nachbarland geplant, dort befinden sich auch viele der Islamschulen, die für die ideologische Erziehung der Taliban verantwortlich sind.

Mit dem Rückzug des Westens aus der Region erledigt sich das Problem, die Maskerade Pakistans hat nun wahrscheinlich ein Ende und die Beziehungen zu Afghanistan werden sich mutmasslich deutlich verbessern. Das bringt für die pakistanische Regierung den Vorteil, dass sie sicherheitsstrategisch im Dauerkonflikt mit Indien nun einen Verbündeten im Rücken hat.

Iran

FILE- In this Feb. 20, 2019 file photo, Afghans return to Afghanistan at the Islam Qala border with Iran, in the western Herat Province. Taliban have taken control of Islam Qala crossing border in wes ...
Der Iran gilt als ideologischer Feind der Taliban.Bild: keystone

Unklar ist, wie sich die Beziehungen zum Iran gestalten werden. Die iranische Regierung hat angekündigt, pragmatische Beziehungen zu den Taliban aufbauen zu wollen.  

Vor dem Sturz der sunnitischen Taliban waren sie Gegner des schiitischen iranischen Regimes. Das ist auch der Grund, warum es im Iran grosse Demonstrationen gegen die Rückkehr der Taliban gab.

Doch auch in Teheran erscheinen neue geostrategische Möglichkeiten, die Konflikte der Vergangenheit vergessen zu machen. So könnte der Iran mit guten Beziehungen zum künftigen Regime in Afghanistan seinen Einfluss ausbauen, der angeschlagenen Wirtschaft helfen und hätte quasi eine Landbrücke zu den engen Verbündeten Russland und China über die ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien.

Ob die Taliban diese Beziehungen überhaupt möchten, ist ungewiss. Der Iran gilt als ideologischer Feind, der in jüngster Vergangenheit gegen sunnitische Islamisten kämpfte, zum Beispiel in Syrien. Es ist ausserdem möglich, dass sich die Taliban Unterstützung vom Regionalrivalen des Iran, Saudi-Arabien, erhoffen.

Unabhängig davon ist der Abzug des Erzfeindes USA aus dem Nachbarland sicherheitspolitisch eine gute Nachricht für den Iran.

Die Folgen für Europa

Es ist wahrscheinlich, dass sich das strategische Versagen der westlichen Allianz in Afghanistan mittelfristig auch auf die Bevölkerung in Europa auswirkt. Möglicherweise durch Probleme auf den wichtigen Schiffshandelsrouten am Golf, die durch weniger Präsenz westlicher Kräfte im Mittleren Osten grösseren Risiken ausgesetzt sind. Oder durch das Erstarken des islamistischen Terrorismus, dessen Bedrohung wieder wachsen könnte.

Kurzfristig könnte der Konflikt in Afghanistan eine neue Flüchtlingskrise auslösen, weil viele Menschen vor den Islamisten und aus Angst vor Tod und Folter zu entkommen versuchen. Die Prognosen von Experten gehen in diesem Punkt jedoch noch weit auseinander.

Ein vereinter Westen könnte eine kommende Krise auch als Chance begreifen, um gemeinsam Stärke zu demonstrieren und Vertrauen zurückzugewinnen. Aber der Streit zwischen den Verbündeten in der Frage macht das aktuell unwahrscheinlich.

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Die Taliban übernehmen die Macht in Afghanistan
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Die Taliban übernehmen die Macht in Afghanistan
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quelle: keystone / zabi karimi
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43 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Cpt. Jeppesen
19.08.2021 19:50registriert Juni 2018
Ich versuche dem Artikel zu folgen, es gelingt mir nicht. Eine wilde Zusammenstellung verstaubter Argumente aus Grossvaters Mottenkiste. Man sollte fast meinen, die Freiheit wird am Hindukusch verteidigt.
Afghanistan besteht zu 75% aus Bergen - bis zu 7000m hoch, ist staubtrocken und hat keinerlei Bodenschätze. Das BIP ist gerade mal $500 pro Kopf/Jahr. Da gibt es nichts zu holen, weder für die Russen noch für China. Das Hightec-Militärmaterial der Amis ist ebenfalls nicht nutzbar. Die sind wieder da, wie vor 20 Jahren, ein armes, unterentwickeltes, leeres Land, von Stammesfürsten regiert.
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Grausichtiger
19.08.2021 20:26registriert Juli 2020
Der westlichen Welt würde etwas Demut weitaus besser stehen als jetzt wieder einfach die Russen und Chinesen zu kritisieren.
Seit zig Jahren wurde von den Amis ein Falsches Spiel gespielt. Diverse Länder wurden überfallen und die Machtgefüge überall durcheinander gewirbelt. Unter fadenscheinigen humanitären Vorwänden wurden Länder und Regionen angegriffen. Wobei es immer nur um geopolitische Interressen oder um Rohstoffe ging.
Alle wurden belogen und betrogen. Bei den Chinesen und den Russen weiss man wenigstens woran man ist. Die spielen mit offenen Karten. Logisch werden sie bevorzugt.
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