Fassungslos verfolgte man in den vergangenen Tagen und Wochen die Bilder. Bärtige Männer erobern Afghanistan im Sturm. Ohne grösseres Blutvergiessen, vielerorts ergaben sich die Gouverneure und Soldaten ohne Widerstand.
Das Land fiel in verhältnismässig kurzer Zeit, vor allem wenn man die unwegsame Topografie des Landes bedenkt – eine «unüberwindbare Festung» nannten wir es in einem Artikel kürzlich.
Doch wie kommen junge Menschen überhaupt dazu, sich einer Terrororganisation anzuschliessen? Wir haben uns auf die Spurensuche gemacht und ein paar mögliche Antworten gefunden.
Der Name der islamistischen Miliz sagt eigentlich schon ziemlich viel: «Taliban» bedeutet auf Paschtunisch «die Schüler» oder «die Studenten». Die Ursprünge haben die Taliban in religiösen Schulen in Afghanistan und Pakistan. Gemeinsam mit ehemaligen Mudschahedin gründeten sie sich im Jahr 1994 und erlangten innert kürzester Zeit die Kontrolle in Afghanistan.
Diese religiösen Schulen, genannt Madrasa, existieren bereits seit dem 10. Jahrhundert. Dementsprechend konnten sie auch nicht nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 geschlossen werden.
Die Madrasa an sich wäre auch kein Problem, denn diese gibt es in der gesamten muslimischen Welt. Das Problem ist viel eher, wer an der Schule lehrt. Und im Fall Afghanistan wurden die Lehrer nicht ausgetauscht.
In der Region Kunduz etwa berichtete Human Rights Watch schon im Jahr 2016, dass die Taliban-Aktivität an den Madrasas zugenommen habe. Bereits 13-jährige Jungen würden im Gebrauch eines Gewehrs unterwiesen.
Fast bedeutender noch sind jedoch die Koranschulen in Pakistan. Offiziell nicht gemeldet, soll es bis zu 20'000 solcher Schulen geben. Viele hochrangige Taliban wurden in solchen Schulen rekrutiert, doch die pakistanische Regierung ist entweder nicht fähig oder unwillig, dagegen vorzugehen.
Doch wieso schicken Familien ihre Kinder überhaupt in solche Einrichtungen? Einerseits spielte das liebe Geld eine Rolle: Das Kind wird in einer solchen Madrasa verköstigt. Sprich ein Mund weniger zu stopfen. Andererseits verspricht die Ausbildung Prestige: Mit dem Abschluss einer religiösen Ausbildung winken Titel wie «Mullah».
Eigentlich wäre Afghanistan ein reiches Land. Im Boden vergraben liegen schier unermessliche Vorkommen an seltenen Erden. Doch die afghanische Bevölkerung hat nichts davon. Etwa 90 Prozent der Bevölkerung leben von weniger als 2 Dollar pro Tag.
Was macht man also, wenn man wie 80 Prozent der Bevölkerung auf dem Land lebt? Man ergreift jede Chance, die ein besseres Leben verspricht. So etwa Mir Tohmas Wazir, der als 17-Jähriger den Taliban beitrat. Er nennt seine Gründe in einem Satz:
Die Taliban kamen eines Tages in das Bergdorf seines Vaters in der südlichen Paktika-Provinz, erzählte er dem Guardian. Falls er für ihre Sache unterschreiben würde, bekäme er eine schöne Belohnung. Und so fand er sich auf dem Schlachtfeld wieder und erlebte, wie sein Cousin, der ebenfalls unterschrieb, ein Bein wegen eines Schrapnells verlor. Monate später desertierte er.
Arman Omari, 25, wuchs inmitten von Waffen, Drogen und Luftangriffen auf. Sein ganzes Leben war von Konflikten geprägt und sein Dorf in der Provinz Nangarhar wechselte mehrmals die Kontrolle, erzählte er einer Journalistin von Foreign Policy letztes Jahr.
Sein Dorf sah nichts von den Milliarden, die vom Westen ins Land gepumpt wurden. Für seine Familie sehe er keine Zukunft unter der (mittlerweile gestürzten) Regierung. Der Graben zwischen relativ wohlhabenden städtischen Gebieten und ländlichen Gegenden wie der seinen sei nach fast zwei Jahrzehnten Demokratie nur noch grösser geworden.
Deshalb habe er eine Entscheidung getroffen: «Ich habe mich den Taliban angeschlossen, weil die Regierung korrupt ist.» Er selbst sieht keine Perspektive:
Die Versprechen der Regierung von einem besseren Leben haben sich für Omari nicht materialisiert: In seinem Dorf gibt es keine Schule, keinen Arzt, keine Jobs. Und von Sicherheit nicht zu sprechen: «Ich erinnere mich an die Luftschläge nachts. Amerikaner, Taliban, ‹Islamischer Staat› ...» Omari erzählt:
Und so denken viele arme und verzweifelte Menschen vom Land. Für sie hat Kabul wenig getan. Ihre Einstellung: Geben wir den Taliban doch mal eine Chance. Vielleicht wird's besser.
Für Omari ging es bei seiner Entscheidung weniger darum, Teil eines Aufstandes zu sein, sondern vielmehr um die verzweifelte Suche nach einer Zukunft. Würde er denn das Land verlassen? Omari antwortete:
Es fängt bei der Geburt an. Du bist eines von 5 Geschwistern. Je nachdem, ob deine älteren Geschwister vor Dir sterben, bist du Mitesser oder Hoffnung.
Du wirst 15, jetzt sollst du Geld verdienen können und schnell verheiratet sein. Das Leben ist zu kurz, es braucht Familiennachwuchs.
Du kannst arabisch schreiben, Urdu sprechen und den Koran auswendig. Deine Welt endet 10km hinter der Dorfgrenze, weil da ist nichts.
Welche Perspektive?
Er zeigt schön wo das Versagen des Westens stattfand und wieso Afghanistan gefallen ist