Als Joe Biden diese Woche gefragt wurde, ob er seine Entscheidung bereits bedaure, sämtliche amerikanischen Truppen aus Afghanistan abzuziehen, da sagte der Präsident: «Nein.» Sein Land, die USA, habe in den vergangenen 20 Jahren mehr als 1000 Milliarden Dollar investiert und 300'000 afghanische Soldatinnen und Soldaten mit dem neusten Kriegsgerät ausgestattet. Nun liege der Ball bei den staatlichen Institutionen Afghanistans. Biden sagte:
Damit sind sie allerdings heillos überfordert, wie der Vormarsch der Taliban-Kämpfer zeigt: 18 der 34 Provinzhauptstädte haben die Islamisten in einer einzigen Woche eingenommen, darunter die zweitgrösste Stadt Kandahar im Süden des Landes. Inzwischen werden die Städte völlig kampflos an die Taliban übergeben.
Mit seiner Einschätzung steht der amerikanische Präsident daher, zumindest in Washington, so ziemlich alleine da. Verbündete und Kritiker Bidens kritisieren das Weisse Haus in zunehmend scharfen Tönen für die Tatsache, dass Amerika die Geschwindigkeit und die Brutalität des Vormarsches der Taliban nicht akkurat vorhergesehen habe. Der republikanische Senator Lindsey Graham sprach auf Twitter von einem «Debakel» und sprach düster über negative Folgen in anderen Weltgegenden. «Wenn man an einem Ort verliert, dann schmerzt dies an einem anderen Ort», sagte Graham der Internet-Publikation «Axios».
Andere Stimmen wiesen darauf hin, dass Biden seit seinem Amtsantritt häufig und gerne darüber spreche, wie Amerika dank der Führungsrolle, die er spiele, nun wieder an der Spitze der westlichen Demokratien stehe. Der chaotische Rückzug aus Afghanistan zeige nun, dass die Realität anders aussehe. So schrieb der Gideon Rachman in der «Financial Times»:
Ein Punkt geht dabei allerdings vergessen: Biden ist schon lange der Meinung, dass eine anhaltende Truppenstationierung in dem Land, in dem Osama Bin Laden die Terroranschläge des 11. September 2001 plante, nicht im Interesse Amerikas sei. So sagte der damalige Vizepräsident im Jahr 2010, während eines hitzigen Gesprächs mit einem langjährigen Bekannten: «Ich schicke meinen Buben nicht zurück, damit er sein Leben für den Schutz von Frauenrechten riskiert. Das funktioniert einfach nicht.»
Nun war der Aussenpolitiker Biden während seiner langen Karriere in Washington nicht unbedingt für seine klare Linie bekannt. Im Streit um die Zukunft der pro-westlichen Institutionen Afghanistans aber ist in den Aussagen Bidens eine klare Linie erkennbar, die interessanterweise nicht nur am linken Rand seiner Partei, sondern auch bei isolationistischen Republikanern auf Anklang stösst. So vertrat ausgerechnet Vorgänger Donald Trump eine ähnliche Position wie Biden, bevor es seinen militärischen Beratern gelang, ihn umzustimmen.
Biden hat allerdings auch kein Interesse an einer öffentlichen Demütigung Amerikas. Während einer Pressekonferenz vor einem Monat wies er deshalb Parallelen zur chaotischen Evakuierung der US-Botschaft in Saigon, mit der 1975 das langjährige Blutvergiessen in Vietnam für die Amerikaner zu Ende ging, entschieden zurück. Die Lage in Afghanistan lasse sich mit Vietnam «nicht vergleichen», sagte er.
Aber ganz sicher scheint sich Biden nicht zu sein. Also entschied der Präsident am Donnerstag, 3000 Marine-Infanteristen in die afghanische Hauptstadt zu schicken. Diese Eingreiftruppe solle sicherstellen, dass Hunderte von Amerikanern, die vornehmlich in der Botschaft arbeiteten, unversehrt ausreisen können. Auch will das Weisse Haus möglichst viele ehemalige Zuarbeiter der US-Armee evakuieren.
Das Weisse Haus beteuert aber auch, dass dieser Einsatz nichts an den Plänen Bidens ändere. Mit ein Grund, warum der Präsident an seinem Ziel festhält, den «ewigen» Krieg in Afghanistan zu beenden: Meinungsumfragen zeigen, dass eine Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung müde ist und den Konflikt beenden möchte. (bzbasel.ch)