Seit ihrer Machtübernahme im August 2021 und dem chaotischen Abzug internationaler Streitkräfte sorgen die Taliban in Afghanistan für jede Menge negative Schlagzeilen. So kam es seit ihrer Machtübernahme laut der UN zu über 200 aussergerichtlichen Tötungen, zudem wurden Mädchenschulen und Schönheitssalons geschlossen und erst kürzlich liess die Moralpolizei Musikinstrumente verbrennen.
Dies alles steht im Kontrast zu einer auf den ersten Blick erfreulich scheinenden Nachricht: Die Taliban haben der Drogenproduktion im Land den Riegel geschoben. Dieses Vorhaben kündigten sie bereits bei ihrer Machtübernahme im August 2021 an:
Was aus dem Verbot geworden ist und wie es sich auf Afghanistan und die Welt auswirkt.
Das entsprechende Verbot wurde im April 2022 erlassen, international jedoch mit Skepsis aufgenommen. Wenn auch das Vorhaben zu begrüssen war, so zweifelten Expertinnen und Experten an der Umsetzbarkeit.
Grund: Gemäss Untersuchungen des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) produzierte Afghanistan im Jahr 2020 85 Prozent aller illegalen Opioide weltweit. Gemäss dem UNODC belief sich der Gesamtwert der Opiatproduktion im Jahr 2021 auf 1,8 bis 2,7 Milliarden US-Dollar, was zwischen 9 und 14 Prozent des afghanischen Bruttoinlandproduktes ausmachte.
Dass die Taliban insbesondere angesichts der ihnen auferlegten Sanktionen nach der Machtübernahme auf diese Einnahmen verzichten würden, schien vielen internationalen Beobachterinnen und Beobachtern unwahrscheinlich.
Viele von ihnen sahen ihre Vermutungen bestätigt, als Medien und Denkfabriken im Sommer 2022 vom boomenden Opiumhandel in Afghanistan berichteten. David Mansfield, ein britischer Forscher, der sich seit den 1990ern mit dem Drogenanbau in Afghanistan auseinandersetzt, kritisierte diese Berichterstattung. In einem Bericht von Anfang Juni erklärte er, dass viele Medien die Abfolge von Ereignissen – insbesondere die Anbausaisons für Drogen – nicht verstanden hätten.
Auch die UNODC berichtete im November 2022, dass der Anbau im Vergleich zum Vorjahr um 32 Prozent gestiegen sei. Das Problem: Der geerntete Mohn von 2022 wurde bereits 12 Monate vor dem UNODC-Bericht und 5 Monate vor Ankündigung des Drogenverbots gepflanzt, so Mansfield. Die Taliban liessen diesen Mohn unangetastet, da dieser nach Erlass des Drogenverbots im April 2022 nur noch ein oder zwei Wochen von der Ernte entfernt war. Eine Zerstörung der Felder so kurz vor der Ernte hätte laut Mansfield zu grossen Unruhen geführt.
So liessen die Taliban diese Ernte noch zu, warnten aber alle Mohnbauern davor, dass anschliessend kein neuer Mohn gepflanzt werden dürfe.
Dass die Taliban ihr Drogenverbot nach der Ernte 2022 rigoros durchsetzten, zeigen Satellitenbilder von dem Geodatenanalyseunternehmen Alcis, die am 7. Juni dieses Sommers publiziert wurden: In der südlichen Provinz Helmand sei der Mohnanbau von 120'000 Hektaren im Jahr 2022 auf weniger als 1000 Hektaren im Jahr 2023 gefallen, so Mansfield, der an der Untersuchung mit Alcis beteiligt war.
Auch in anderen Provinzen des Süd- und Südwestens wird nun hauptsächlich Getreide angepflanzt. Dies in einer Region, in der üblicherweise etwa 80 Prozent der gesamten Mohnernte angepflanzt werden. Zwar würden in Teilen des Nordostens weiterhin Mohn angebaut, so Mansfield, dennoch sei klar, dass der Mohnanbau auf den niedrigsten Stand seit dem ersten Drogenverbot durch die Taliban 2000/2001 gesunken sei.
Die Analyse von Mansfield und Alcis machte Schlagzeilen. Wurde den Aussagen der Taliban bezüglich Rückgang des Mohnanbaus davor nicht viel Glauben geschenkt, so liessen die Satellitenbilder keine Zweifel mehr zu.
Den Taliban kam diese Bestätigung von internationaler Seite gelegen. So schrieb Hafiz Zia Ahmad, der stellvertretende Pressesprecher und stellvertretende Direktor für Öffentlichkeitsarbeit auf X (vormals Twitter):
Following the IEA Supreme Leader’s decree, poppy cultivation has been reduced to zero.
— Hafiz Zia Ahmad (@HafizZiaAhmad1) June 8, 2023
According to recent media reports, 56.2% of land in Helmand province was poppy cultivated in 2020 whereas it has reduced to 0.4% by 2023 while in reality, it is much lesser. 1/2 pic.twitter.com/yapaqYdzkH
Auch die UN-Mission in Afghanistan (Unama) äusserte sich zum Rückgang. Es gebe deutliche Anzeichen dafür, «dass das von den Taliban im April letzten Jahres verkündete Verbot der Opiumgewinnung in vielen Teilen des Landes tatsächlich durchgesetzt wurde», sagte die UN-Sondergesandte für Afghanistan, Rosa Otunbajewa, am 21. Juni während einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats in New York.
Noch positiver äusserte sich der US-Afghanistanbeauftragte Thomas West:
Reports that the Taliban have implemented policies to significantly decrease opium poppy production this year are credible and important. Every country in the region and beyond has a shared interest in an Afghanistan free of drugs.
— U.S. Special Representative Thomas West (@US4AfghanPeace) June 7, 2023
Auch wenn ein drogenfreies Afghanistan zunächst wünschenswert klingen mag, so könne dies eine Reihe ganz anderer Probleme auslösen, warnt Mansfield.
In einem Bericht von Anfang August geht Mansfield auf die vom Opiumverbot resultierenden Probleme ein. Das Vorhaben stösst nämlich nicht bloss bei der afghanischen Landbevölkerung, sondern teilweise auch bei den Taliban, die das Verbot umsetzen müssen, auf Widerstand.
So seien etwa die lokalen Behörden der südlichen Bezirke in Nangarhar nur halbherzig gegen die Mohnanpflanzung vorgegangen, weshalb die Ernte schliesslich erst später in der Saison vernichtet worden sei. Im Distrikt Achin hätten die Behörden sogar mehrfach versucht, die Landwirte zur Vernichtung ihrer eigenen Ernte zu ermutigen, so Mansfield. Allerdings ohne Erfolg. Schliesslich sei es zu einer aggressiven Ausrottungsaktion mit der Unterstützung von Taliban gekommen, bei der es sogar Tote und Verletzte gegeben habe.
Das Problem für viele der Landwirte besteht darin, dass die Taliban ihre Ernte zerstören, ohne ihnen dafür Alternativen anzubieten. Zudem sind viele der bereits sehr armen Familien auf das Einkommen durch den Opiumanbau angewiesen. Mit anderen Nutzpflanzen verdienen sie nur einen Bruchteil von dem, was sie mit Opium verdienten, klagen Mohnbauern gegenüber BBC. Auch über die türkische Nachrichtenagentur Anadolu bitten Mohnbauern die Taliban-Regierung um Hilfe:
Der stellvertretende Sprecher der Taliban, Bilal Karimi, räumte gegenüber türkischen Nachrichtenagentur ein, dass in den Gebieten aufgrund der im Land herrschenden Wirtschaftskrise keine grösseren Entwicklungsprojekte durchgeführt werden könnten. Er appellierte Anfang Juni an den Rest der Welt:
Bilal Karimi fand Gehör: Die UN-Sondergesandte für Afghanistan, Rosa Otunbajewa, forderte Ende Juni die internationale Gemeinschaft auf, Alternativen zu fördern, «die auf die besonderen Bedürfnisse der vom Verbot betroffenen Landwirte eingehen», sagte die Unama-Chefin.
Doch wie können die Taliban Hilfe von internationalen Organisationen erwarten, wenn sie selbst deren Arbeit und Finanzierung gefährden, indem sie Frauen die Arbeit für alle NGOs verbieten? Das will die BBC im Juni dieses Jahres vom Sprecher wissen. Dieser will davon nichts hören:
Hilfe haben aber bisher nicht alle nötig: Grösseren Landbesitzern dürfte es laut Mansfield möglich sein, vom Opiumverbot zu profitieren. Da ihre Lager noch immer mit Opiumbeständen aus vorherigen Jahren gefüllt sein dürften, können sie es sich leisten, das Opium der 2022-Ernte zurückzuhalten. So können sie es zu einem späteren Zeitpunkt – bei der erwarteten drastischen Verringerung des Angebots – zu höheren Preisen verkaufen. Kleineren Bauern oder Feldarbeitern hingegen wird das nicht möglich sein. Viele von ihnen müssten ihre Ernte direkt verkaufen, so Mansfield, da sie auf das Einkommen angewiesen seien.
Bereits im November 2022 schossen die Opiumpreise in die Höhe: Wurde ein Kilo Opium im November 2020 noch für 60 Dollar verkauft, stieg der Preis im Süden und Südwesten Afghanistans auf 360 Dollar, im Osten sogar auf 475 Dollar.
Mansfield vermutet, dass sich viele afghanische Familien gezwungen sehen auszuwandern, da sie sich mit dem Anpflanzen von Getreide nicht über Wasser halten können. Problematisch könnte es vor allem werden, wenn das Drogenverbot auch noch ein zweites Jahr fortgesetzt würde:
Am meisten Angst hat man international aber vor einer Fentanyl-Epidemie.
So könnte der Opiummangel Drogensüchtige weltweit dazu verleiten, auf die synthetisch hergestellte und einfacher verfügbare Droge Fentanyl umzusteigen. Eine Droge, die 50-mal stärker als Heroin und 100-mal stärker als Morphin ist und insbesondere in den USA bereits zu einem drastischen Anstieg an Drogentoten geführt hat. Da afghanisches Heroin 95 Prozent des europäischen Marktes ausmacht, fürchtet man sich in unseren Breitengraden um ähnliche Szenarien wie in den USA.
Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) warnte in ihrem aktuellen Drogenbericht:
Bis tatsächlich eine Fentanyl-Epidemie eintritt, dürfte es laut Mansfield noch eine Weile dauern. Einen Anhaltspunkt gibt das Verbot aus der Vergangenheit: Die Taliban hatten bereits 2000 ein Drogenverbot verhängt. Damals dauerte es 18 Monate, bis die Qualität des Heroins auf britischen Märkten deutlich zurückging, schreibt David Mansfield. Wie sich die Lage mit dem jetzigen Verbot entwickeln wird, sei nicht so einfach abzuschätzen. Dass aber das diesjährige Verbot zu einer Fentanyl-Epidemie führe, glaubt Mansfield nicht. Dafür habe Afghanistan noch zu viel Opium auf Lager. Zudem gebe es derzeit auch für den Handel nur wenige Einschränkungen. Opium, das vor der Verhängung des Verbots angebaut worden sei, werde weiterhin verkauft, so Mansfield. Das legten Beschlagnahmungen sowohl in den Nachbarländern als auch weiter entfernten Ländern nahe.
Sollte das Drogenverbot allerdings noch ein zweites Jahr weitergezogen werden, wird das der europäische Markt zu spüren bekommen. Doch wie wahrscheinlich ist die Aufrechterhaltung des Drogenverbots? Eine Weiterführung des Drogenverbots könnte für die Taliban riskant werden, so Mansfield: Viele der Schlafmohnbauern seien dem Verbot in Afghanistan nur nachgekommen, weil sie noch Opium auf Lager hätten und von den höheren Preisen profitieren könnten. Seien ihre Lager aber erst mal leer, so dürfte sich auch in ihren Reihen grösseren Widerstand regen.
Sollte es tatsächlich so weit kommen, hätte nicht nur Afghanistan, sondern möglicherweise die ganze Welt ein Problem. Deshalb schreibt auch Mansfield in seinem jüngsten Bericht:
Wer da wohl so alles profitiert hat?