August 2021: Fluchtartig verlassen die letzten westlichen Soldaten Kabul. Hunderte verzweifelter Afghanen rennen den abfliegenden US-Transportmaschinen hinterher und versuchen, sich an ihnen festzuklammern. Jene, die es schaffen, stürzen vor laufenden Kameras in den Tod.
Seit dem letzten Helikopter vom Dach der US-Botschaft in Saigon 1975 haben die Vereinigten Staaten keinen derart traumatisierenden militärischen Zusammenbruch mehr miterleben und mitverantworten müssen. Nun ist Ende Februar ein umfangreicher Untersuchungsbericht erschienen, der den Ursachen des Versagens auf den Grund geht.
Eigentlich wollte sich das Forschungsteam auf die Frage konzentrieren, wieso die afghanische Regierungsarmee innert Tagen kollabierte – trotz der 20-jährigen Unterstützung durch den Westen und total 90 Milliarden Dollar Waffenhilfe.
Herausgefunden hat das verantwortliche Büro des Ausserordentlichen Generalinspekteurs für den Wiederaufbau in Afghanistan «Sigar» (Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction) dann aber auch verschiedene Ursachen, die über das rein Militärische hinausgehen. Diese sind bezeichnend für das Scheitern der US-Aussenpolitik in dieser Weltregion.
Einen der offensichtlichsten Gründe nennt der Sigar-Report, nicht an erster Stelle: Die weitverbreitete Korruption in der afghanischen Regierung und Armee wirke sich verheerend auf deren Kampfkraft aus.
So flossen aus den USA so viel Geld und Material ins Land, dass selbst US-Kontrollstellen die Übersicht verloren.
Bedeutender als die afghanische Korruption stuft der Sigar-Report die fehlende langfristige Strategie der USA ein. Eigentlich habe keiner der US-Präsidenten seit George W. Bush länger in Afghanistan bleiben wollen.
Die dorthin abkommandierten militärischen und zivilen US-Führungsleute strebten daher immer nur nach kurzfristigen Erfolgsmeldungen: «Statt eines 20-Jahres-Plans hatten wir 20 1-Jahres-Pläne», fasste Sigar-Direktor John Sopko kürzlich an einer Veranstaltung zusammen.
Folglich stellten die jeweiligen US-Regierungen völlig unrealistische Erwartungen an die Aufbaudauer einer funktionierenden afghanischen Armee und Verwaltung.
Ausserdem beschreibt der Sigar-Report einen interessanten Teufelskreis: Die USA bildeten die afghanische Armee als Spiegelbild der eigenen Streitkräfte aus, mit viel zu komplexen Anforderungen an Material und Personal.
Das fing damit an, dass die Afghanen US-Sturmgewehre anstelle der in der Region üblichen Kalaschnikows erhielten. Das fehlende Verständnis für die lokalen Eigenheiten wurde durch schlecht instruierte, im Neun-Monats-Turnus wechselnde US-Ausbildner verstärkt.
In der Folge kaschierten die US-Truppen das Versagen der afghanischen Armee, indem sie die Hauptlast der Kriegseinsätze trugen, anstatt den Afghanen die Möglichkeit zu geben, gegen die Taliban eigene Kampferfahrung zu sammeln.
Als es aber darum ging, eine Rechtfertigung für den Abzug der westlichen Truppen zu finden, wurde die Leistungsfähigkeit der afghanischen Armee realitätsfremd überhöht. Gleichzeitig fühlten sich die afghanischen Regierungstruppen von ihren westlichen Verbündeten verraten und verloren.
Der 148-seitige Bericht nennt noch zahlreiche weitere Gründe. Mit Hinweis auf eigene Untersuchungen verweigerte das US-Verteidigungsministerium die Zusammenarbeit mit dem Sigar-Team, das immerhin im Auftrag mehrerer Kongressausschüsse forschte. Auf die Frage des Fachmagazins «Military Times», ob die USA aus dem Afghanistan-Debakel trotzdem die richtigen Lehren ziehen werden, antwortet Sigar-Direktor Sopko: «In dieser Hinsicht würde ich nicht unbedingt superoptimistisch sein.»