Die Frage hat beste Chancen, in die Geschichtsbücher einzugehen. «Darf ein Präsident ein SEAL-Team (die Elitetruppe der US Navy, Anm. d. Verf.) damit beauftragen, einen politischen Rivalen zu ermorden?», fragte die Richterin Florence Pan den Trump-Anwalt John Sauer. «Und darf er deswegen angeklagt werden? Antworten Sie mit Ja oder Nein.»
Der Anwalt druckste zunächst eine Weile herum und erwiderte danach, nur wenn zuvor ein Impeachment-Prozess gegen den Präsidenten stattgefunden habe und dieser auch verurteilt worden sei. Denn, so der Anwalt weiter, der amerikanische Präsident geniesse vollumfängliche Immunität. Nur so könne er sein Amt ausführen.
Um die Bedeutung dieser haarsträubenden Aussage zu erfassen, muss man sich vor Augen führen, dass die Verurteilung nach einem Impeachment-Verfahren gegen einen amerikanischen Präsidenten eine Zweidrittels-Mehrheit im Senat erfordert, und dass dies unter den gegebenen Umständen einer politischen Illusion gleichkommt.
Das wiederum bedeutet, dass ein US-Präsident in den Augen der Trump-Anwälte tatsächlich über dem Gesetz steht. Er verliert, wie der Ex-Präsident in einem legendären Zitat einst aussagte, nicht nur die Gunst seiner Wähler nicht, wenn er einen Menschen auf offener Strasse erschiesst. Er kann deswegen auch nicht vor ein Gericht gezerrt werden.
Die Argumentation von Trump und seinen Anwälten ist nicht nur haarsträubend, sie steht auch im krassen Gegensatz zu den Aussagen, die sie im zweiten Impeachment-Verfahren gegen den Ex-Präsidenten gemacht haben. Damals argumentierten sie, dieses Impeachment sei überflüssig, da die Amtszeit Trumps sowieso abgelaufen sei und er nun vor einem Gericht für allfällige Straftaten zur Rechenschaft gezogen werden könne. Mitch McConnell, der Anführer der Republikaner im Senat, übernahm diese Argumentation und verhinderte so eine Verurteilung von Trump.
Es ist bezeichnend für den Zustand der Grand Old Party, dass solche Widersprüche mittlerweile wortlos hingenommen werden. Politisch ist Trump derzeit zumindest in der eigenen Partei unangreifbar und seine Nomination zum Präsidentschaftskandidaten eine reine Formsache.
Juristisch hingegen ist sein Schicksal ungewiss. Selbst die republikanische Vertreterin des Berufungsgerichts, Karen Henderson, reagierte in der Anhörung skeptisch auf die Argumente des Trump-Anwalts Sauer. «Ich denke, es ist paradox zu sagen, dass seine verfassungsmässige Pflicht, das Gesetz zu schützen, ihm erlaubt, das Strafgesetz zu verletzen», erklärte sie.
Nach Einschätzung der meisten Experten dürfte Trump daher auch vor dem Berufungsgericht in Washington D.C. eine Niederlage erleiden. Zu diesem Verfahren war es gekommen, weil der Ex-Präsident Berufung gegen ein Urteil in erster Instanz eingereicht hatte, wo sein Begehren nach «exekutiver Immunität» ebenfalls abgeschmettert wurde.
Trump macht sich auch diesmal wenig Hoffnung, als Sieger vom Platz zu gehen. Er spielt vielmehr auf Zeit. Ihm geht es darum, den provisorisch auf den März angesetzten Strafprozess wegen seiner Rolle im Sturm auf das Kapitol auf einen Zeitpunkt nach den Wahlen zu verschieben. Gelingt ihm dies und gewinnt er im November die Wahlen, kann er sich selbst begnadigen und sich somit aller juristischen Sorgen entledigen.
Die Chancen, dass diese perfide Rechnung aufgeht, sind intakt. Selbst wenn Trump verliert, kann er fordern, dass alle neun Vertreter des Berufungsgerichts auf seinen Einspruch eintreten müssen – vorläufig sind es nur deren drei –, und danach kann er auch noch den Supreme Court anrufen, ein Gremium, das er selbst mit drei konservativen Richtern bestückt hat.
Der Ex-Präsident muss sich allerdings auch darauf gefasst machen, dass die Berufungsrichterinnen sehr rasch gegen ihn entscheiden und dass sie vor allem verfügen, dass das derzeit auf Eis gelegte Strafverfahren weitergeführt werden kann. In diesem Fall dürfte der Prozess wahrscheinlich nicht im März, aber noch im Frühsommer über die Bühne gehen.
Obwohl er nicht dazu verpflichtet war, ist Trump zur Anhörung am vergangenen Dienstag höchstpersönlich aufgetaucht. Er will ganz offensichtlich die Gerichte zu seiner Wahlkampfbühne ummodeln. Deshalb wird er auch am Donnerstag in Manhattan in einem Zivilprozess nicht nur anwesend sein, sondern gar – wohl zum Entsetzen seiner Anwälte –, das Schlussplädoyer selbst halten. (Inzwischen hat ihm dies der Richter allerdings untersagt.)
Viel zu verlieren hat er dabei nicht. Der Richter hat ihn bereits für schuldig befunden, die Bilanzen der Trump Organization widerrechtlich manipuliert zu haben. Es geht einzig um die Höhe seiner Busse und darum, ob die Trump Organization weiterhin im Bundesstaat New York tätig sein darf.
Auch zu diesem Auftritt wäre Trump nicht verpflichtet. Warum tut er sich das also an? Auf der Angeklagten-Bank eines Gerichts zu sitzen, gilt gemeinhin als suboptimale Wahlkampf-Propaganda. Ist Trump somit blöd, oder weiss er etwas, was den Polit-Auguren entgeht?
Vieles spricht für Letzteres. Schon 2016 machte Trump genau das Gegenteil dessen, was ihm empfohlen wurde. Er attackierte die spanisch sprechende Bevölkerung («Mexikaner sind Gangster und Vergewaltiger»), obwohl ihm sämtliche Berater vorgerechnet hatten, wie wichtig genau dieses Wählersegment inzwischen geworden sei.
Auch diesmal schlägt er die Ratschläge der Experten in den Wind. Er kümmert sich nur oberflächlich um die sogenannten «Küchentisch-Themen» – Inflation, Immigration, Verbrechen –, sondern jammert immer noch über die angeblich manipulierten Wahlen, die ihm das Amt gekostet hätten.
Hat Trump erkannt, dass die bisher gültigen Regeln der amerikanischen Politik nicht mehr gelten? Ist es nicht mehr «It’s the economy, stupid», wie einst Bill Clinton postulierte? Die Frage ist berechtigt. Wenn Trump jammert, wie viel Unrecht ihm angetan werde, dass er das Opfer einer Zweitklassen-Justiz sei und es eigentlich gar nicht um ihn, sondern um Johnny Sixpack gehe, dann trifft er den Nerv seiner Anhänger.
Auch diese haben das Gefühl, die Kontrolle über ihr Leben und ihr Land verloren zu haben und einer «woken» Elite ausgeliefert zu sein. In dieser von Selbstmitleid triefenden Gemütslage hat Vernunft keinen Platz. Trump-Anhänger akzeptieren nicht nur seine Lügen und Torheiten («Windräder töten Wale»), sie kümmern sich auch nicht um die offensichtlichsten Widersprüche. So glaubt inzwischen eine Mehrheit der Republikaner, die Chaoten vom 6. Januar 2021 seien keine Verbrecher, sondern Patrioten, die von der Regierung in Geiselhaft genommen worden seien. Gleichzeitig sind sie überzeugt, dass der Sturm aufs Kapitol eine «False flag»-Operation des FBI gewesen sei.
Wie weit Trump damit jedoch bei den unabhängigen Wählern durchkommen wird, steht auf einem anderen Blatt. Die gleichen Umfragen, die zeigen, dass er derzeit vor Biden in Führung liegt, machen auch deutlich, dass dieser Vorsprung dramatisch schmelzen wird, sollte Trump von einem Geschworenengericht schuldig gesprochen werden.
Der Ex-Präsident hat somit gute Gründe, auf Zeit zu spielen.
Dies ist allerdings so absurd, wie die Frage selbst. Diese Orange gehört in eine geschlossene Institution. Dort könnte er dann den Insassen erzählen, dass auch er über ein Kuckucksnest geflogen sei.