Wie konnte das passieren? Diese Frage stellten sich viele am wohl düstersten Tag seit dem 11. September 2001. Eine Grossmacht überfällt ihren Nachbarn mit dem Ziel, ihn zu unterwerfen, sich vielleicht einzuverleiben. Der Angriff hatte sich abgezeichnet, nachdem die russische Armee immer näher an die ukrainische Grenze vorgerückt war.
Dennoch wollten viele, auch sogenannte «Experten», bis zuletzt nicht glauben, dass Wladimir Putin aufs Ganze gehen würde. Zum Beispiel NZZ-Sonderkorrespondent Ulrich Schmid, ein Kenner der Region. Er befand sich in der Nacht auf Donnerstag im Donbass und musste nach Beginn des russischen Angriffs Hals über Kopf Richtung Kiew flüchten.
Auch viele Ukrainer verdrängten die Kriegsgefahr bis zuletzt. Ein richtiger, ausgewachsener Krieg war für die meisten Europäerinnen und Europäer nur noch eine abstrakte Vorstellung. Sicher, in den 1990er Jahren gab es die Jugoslawienkriege, bei denen auch der Westen mitmischte, aber sie beschränkten sich auf das Gebiet eines gescheiterten Staats.
Jetzt hat ein Land ein anderes, weltweit anerkanntes Land unter krasser Missachtung des Völkerrechts angegriffen. Die Ukraine wird nicht von einem Nazi-Regime beherrscht, wie Putin behauptet. Sie mag in mancher Hinsicht dysfunktional und korrupt sein, ist aber dennoch eine freiheitliche Gesellschaft mit demokratisch gewählter Regierung.
An ihrer Spitze steht der Ex-Fernsehkomiker Wolodymyr Selenskyj, der in der Stunde der Not staatsmännische Grösse entwickelt. Während Wladimir Putin nur noch als hasserfüllter Giftzwerg rüberkommt, der dunkle Andeutungen über einen Atomkrieg macht und sich nicht gross bemüht, das von A bis Z inszenierte Vorgehen zu verschleiern.
Wie konnte das passieren? Diese Frage stellen sich viele auch in Zusammenhang mit dem russischen Präsidenten. Putin galt als halbwegs rationaler Politiker, der an die Grenze ging, aber nicht darüber hinaus, in Georgien, bei der Annexion der Krim oder in Syrien, wo er mit der Luftwaffe intervenierte, die «Drecksarbeit» am Boden jedoch anderen überliess.
Nun hat er im wahrsten Sinne alle Grenzen überschritten. Die «Putin-Versteher» geben die Schuld reflexartig dem Westen. In seinen ersten Jahren als Präsident ab 1999 hatte sich Putin tatsächlich um Annäherung bemüht, etwa mit seiner auf Deutsch gehaltenen Rede im Bundestag. Man kann sich fragen, ob der Westen damals eine Chance verpasst hat.
Historiker werden vielleicht dazu eine Antwort liefern. Die Kehrtwende jedenfalls erfolgte 2007 mit einer weiteren Ansprache in Deutschland, an der Münchner Sicherheitskonferenz. Putin prangerte die Nato-Osterweiterung an und ging auf Konfrontationskurs mit dem Westen. Mit dem Georgienkrieg im folgenden Jahr setzte sich die Entfremdung fort.
Den Schlüssel zu Putins Denkweise liefert seine Überzeugung, der Zerfall der Sowjetunion sei «die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» gewesen. Wladimir Putin ist ein von Ressentiments zerfressener Revanchist, der 1989 als KGB-Agent in Dresden miterleben musste, wie seine Welt sang- und klanglos unterging.
Der Westen hatte die Sowjetunion damals nicht «gedemütigt», wie Putin-Supertroll Roger Köppel behauptet. Sie zerbrach wie der gesamte Ostblock an sich selbst und ihrer Unfähigkeit, den Menschen Freiheit und Wohlstand zu geben. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, einen kleinen Exkurs in die russische Geschichte zu unternehmen.
Russland inszeniert sich gerne als Opfer, das immer wieder von Westen angegriffen wurde. Mehrere Male von Schweden, später von Napoleon Bonaparte und Adolf Hitler. Poltawa, Beresina und Stalingrad stehen für legendäre Schlachten und glänzende (sowjet-)russische Siege. Und für westliche Infamie, der sich Russland erfolgreich widersetzen konnte.
Seit dem Zweiten Weltkrieg aber wurde Russland nie angegriffen, wenn man von Kämpfen mit China im Fernen Osten absieht. Dafür schickte die Sowjetunion ihre Panzer mehrfach in «befreundete» Länder, die sich den Beglückungen des Kommunismus widersetzten: 1953 in die DDR, 1956 nach Ungarn, 1968 in die Tschechoslowakei, 1979 nach Afghanistan.
Hier liegt auch der Schlüssel für die Nato-Osterweiterung. Dieser Begriff ist eigentlich falsch. Der Nordatlantikpakt hat Russland nicht «umzingelt», wie die Putin-Versteher klagen. Die östlichen Länder haben sich nach Westen gewandt, weil sie Russland fürchten. Man könnte etwas salopp von einer Westerweiterung von Mittel- und Osteuropa sprechen.
Man kann der Nato auch nicht vorwerfen, Russland ignoriert zu haben. Sie hat die Hand ausgestreckt, mit der Partnerschaft für den Frieden oder dem Nato-Russland-Rat. Auch in anderen Gremien ist Russland eingebunden, im Europarat oder in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Gebracht hat es am Ende nichts.
Der Westen hat Fehler gemacht. Er hat zu lange auf die Reformpolitik des früheren Präsidenten Boris Jelzin vertraut, die bei den Russinnen und Russen heute für Chaos und Verarmung steht. Und er neigte dazu, Russland nicht zu demütigen, aber von oben herab zu behandeln, als «Regionalmacht», wie der ehemalige US-Präsident Barack Obama sagte.
Auf frühere Provokationen Putins hat der Westen nur halbherzig reagiert. Dies mag ihn und seine KGB-Entourage im Kreml darin bestärkt haben, sie könnten sich mehr oder weniger alles erlauben. Die Modernisierung der Armee und die Anhäufung von Devisenreserven deuten darauf hin, dass der Angriff nicht erst gestern, sondern jahrelang vorbereitet wurde.
Es fragt sich nur, was Putin damit erreichen will. Im eigenen Land löst der Ukraine-Krieg keine Jubelorgien aus. Vielmehr sind mutige Menschen in zahlreichen Städten auf die Strasse gegangen, um gegen den Krieg zu demonstrieren. Die russische Opposition lässt sich nicht unterdrücken, obwohl Putin sie einsperren, vergiften und stigmatisieren lässt.
International hat sich der russische Präsident isoliert. Die Chinesen tun sich schwer damit, auf seine Attacke auf ihre «heiligsten» Prinzipien Nichteinmischung und territoriale Integrität angemessen zu reagieren. Es kann sein, dass Putin die Ukraine militärisch erobert. Die Herzen der Ukrainerinnen und Ukrainer aber hat er für alle Zeiten verloren.
Der frühere schwedische Regierungschef Carl Bildt erinnerte sich in einem Essay an ein Gespräch mit dem damaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl, einem historisch sehr beschlagenen Staatsmann. Er sprach über Luxemburg und erklärte, Deutschland lebe in Sicherheit, weil selbst sein kleinster Nachbar es als engen Freund betrachte.
Deutschland habe seine Vergangenheit aufgearbeitet, Russland nicht, meinte Bildt. Hierin liegt die Tragik von Wladimir Wladimirowitsch Putin und seiner revanchistischen Gesinnung. Er ist nicht fähig, seine Nachbarn zu Freunden zu machen.