Seit Tagen brodelt es wieder zwischen Serbien und Kosovo: In den ethnisch vielfältigen Gemeinden präsentierten Nationalisten beider Seiten wieder ihre Macht, blockierten Strassen und stritten sich vor Ort. Dass darunter vor allem die Menschen aller Ethnien und Religionen leiden, ist bekannt und wird von den Rädelsführern gekonnt ignoriert.
Am Mittwochmorgen konnte man meinen, dass sich der Serbien-Kosovo-Konflikt auch auf Touristinnen und Touristen ausdehnen könnte: So berichtete der «Blick» in grossen Buchstaben, dass sich die Bedrohungen nun auch gegen Kosovo-Heimkehrer richten würden. Die Schlagzeile war perfekt, denn sie zeigte der grossen kosovarischen Gemeinschaft in der Schweiz: Das Säbelrasseln wird nun ernst!
Auf die Story kam der «Blick» durch einen Blogbeitrag in einem albanischen Diaspora-Portal mit Sitz in Bern. Im Originaltext war die Rede von «serbischen Banden» und ihren Strassenblockaden, wodurch «tausende Migranten in Serbien gefangen» seien. Sie würden von «serbischen Söldnern und Banden – darunter auch Betrunkene – bedroht, beschimpft und misshandelt» werden. Schlimmer noch: «Sie halten Messer und Waffen vor Kindern.» Auswanderer aus der Schweiz würden deshalb Hilfe in Bern oder bei der Schweizer Botschaft in Belgrad suchen.
Die Boulevardzeitung ordnete zwar die Quelle ein («vertritt klar die Sichtweise Prishtinas, gilt aber nicht als Quelle von Falschmeldungen») – eine Faktenprüfung erfolgte hingegen nicht.
Diese hätte ergeben, dass es zwar diese Blockaden gab, diese zu stundenlangen Staus und erwartbaren Scharmützeln zwischen Blockierenden und Blockierten führten. Konkrete Bedrohungen oder gar Misshandlungen gab es aber mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht: Hinweise in sozialen Medien fehlten dafür genauso wie offizielle Bestätigungen vonseiten der Behörden.
So heisst es etwa vom Aussendepartement in Bern auf Anfrage von watson: «Das EDA, einschliesslich unserer Botschaften in Belgrad und Prishtina, haben bislang keine Anfragen von Schweizer Bürgerinnen und Bürgern erhalten, die an der Grenze zwischen Kosovo und Serbien festsitzen oder sich in einem der beiden Länder in Schwierigkeiten befinden.»
In Bern beobachte man die aktuellen Entwicklungen im Nordkosovo und die anhaltenden Spannungen aktiv und rufe die Konfliktparteien regelmässig zur Deeskalation auf, heisst es von der Sprecherin weiter. Das EDA warnt sogar von einer «angespannten Sicherheitslage», die zu «vereinzelten und gezielten Unruhen oder Gewaltakten» führen könnten. Konkrete Hinweise, dass solche Attacken gegen Schweizerinnen und Schweizer verübt wurden, gab es – entgegen der Meldung im Blogbeitrag – hingegen nicht.
Die Meldung sorgte aber trotzdem für Besorgnis, und das ausgerechnet in der Zeit, als sich einige kosovarisch-stämmige Familien aus der Schweiz bereits auf dem Weg in die Heimat begeben haben oder schon dort sind. Sie gab vor allem einen weiteren Grund, den ethnischen Spannungen eine grössere Bedeutung zuzusprechen, als sie es verdienen.
Das wissen auch die Verantwortlichen vor Ort. So sprach Milazim Gashi, ein ehemaliger Minister, von lediglich «300 serbischen Bürgern» an den Barrikaden – um ihnen im gleichen Atemzug vorzuwerfen, sie seien serbische Söldner, die für «50 Euro am Tag» die Barrikaden aufrichten. Auch der serbische Präsident Aleksandar Vučić trat gestern an die Medien, um in einem Nebensatz die Barrikaden kleinzureden.
Am Abend verkündete der serbische Präsident dann immerhin, dass die Strassenblockaden im Nord-Kosovo abgebaut werden, was zur Deeskalation beitragen könnte.
Auch die Institutionen scheinen derzeit zu einem gewissen Grad nach rechtsstaatlichen Regeln zu funktionieren: So entschied am Mittwoch ein kosovarisches Gericht, dem Auslöser der aktuellen Unruhen eine menschliche Geste zu zeigen und dem verhafteten Serben und Polizisten Dejan Pantić aus gesundheitlichen Gründen Hausarrest anstatt Haft zu gewähren. Pantić wird vorgeworfen, während eines Protestes einen kosovarischen Kollegen angegriffen zu haben. Gegen ihn wird im Zusammenhang mit «Terror» ermittelt.
Kosovos linksnationalistischer Premierminister Albin Kurti äusserte sich kritisch über diesen Entscheid, seine Partei sprach in einem Statement gar von «Landesverrat». Der Rüffel kam prompt: Kurti wurde vom Justizrat aufgefordert, die Gewaltentrennung und Gerichtsentscheide «kommentarlos zu respektieren».
Falschnachrichten gibt es derweil nicht nur auf kosovarischer Seite. So lieferte der serbische «Informer» in den vergangenen Tagen eine Reihe hetzerischer Schlagzeilen. Vor einigen Tagen war dort zu lesen: «Wir lassen nicht zu, dass Kurti unsere Kinder tötet.» Gestern Mittwoch wurde nachgedoppelt: «Sie wollen alle Serben aus dem Kosovo vertreiben.»
Die sexistische, rassistische und albanienfeindliche Haltung des «Informers» ist zwar längst bekannt. Noch bekannter ist aber die Nähe der Redaktion zu Vučić und seiner sogenannten «Fortschrittspartei». Womit das Blatt einen beachtlichen Erfolg hat: Glaubt man den Angaben des Verlags, so gilt der «Informer» mit einer Auflage von über 100'000 als erfolgreichstes Boulevardblatt Serbiens.
Wie viele Leserinnen und Leser die Kampfrhetorik auch glauben, ist zwar unklar. Bilder der vergangenen Tage zeigten aber, dass mit dieser Kriegsgebärde tausende Menschen mobilisiert werden können. Kurz vor den katholischen Weihnachten protestierten im serbisch dominierten kosovarischen Dorf Rudare Vučić-Fans mit einer überdimensionierten serbischen Trikolore.
Im Dorf selbst leben hingegen nur knapp 200 Menschen.