Am Tag vor Beginn der parlamentarischen Sommerpause vollzieht Israels Armee einen Kurswechsel in Gaza. Seit der Nacht zum Sonntag werfen Flugzeuge Hilfsgüter aus der Luft ab, überqueren 100 Lastwagen den Grenzübergang Rafah, wie palästinensische Offizielle bestätigten. Ausserdem soll ab sofort «von 10 bis 20 Uhr eine lokale taktische Pause der militärischen Aktivitäten zugunsten der humanitären Bedürfnisse eingeleitet» werden, wie Israels Armee in einer Stellungnahme mitteilt.
Der Schritt erfolgt nur bedingt überraschend: Ebenfalls am Sonntag endet die Sitzungsphase der Knesset, Israels Parlament. Damit läuft für Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Frist ab, in der seine wackelnde Regierung hätte zerbrechen können. Die rechtsextremen Bündnispartner, die dem Premier wiederholt mit Koalitionsbruch gedroht hatten, sollte der Gazakrieg enden, können sich zumindest bis Oktober nun nicht mehr gegen Netanjahus Entscheidungen wehren.
Vor allem die wachsende Protestbewegung gegen den Gazakrieg hatte deshalb auf diesen Termin gehofft. Mehr als 50'000 Menschen hatten noch vor einer Woche in Tel Aviv protestiert. Netanjahu steht unter Druck aus den USA, die Trump-Regierung hatte wiederholt auf ein Kriegsende bestanden. Seit Ende dieser Woche zeichnet sich allerdings ab, dass die Verhandlungen über ein neues Abkommen über eine Waffenruhe und die Freilassung der rund 50 verbliebenen israelischen Geiseln vor dem Scheitern stehen.
Die Entscheidung, nun doch mehr Hilfen für die hungernde Bevölkerung in Gaza zu erlauben, stellt deshalb nur das Mindeste dessen dar, was an diesem Wochenende hätte beschlossen werden sollen. Doch was bedeutet das?
Der Kurswechsel ist ein Eingeständnis, dass Israels Gaza-Politik der vergangenen Monate katastrophal falsch war. Israels Armee hält aktuell rund 75 Prozent des palästinensischen Küstenstreifens besetzt. Wiederholt hatten Armeeoffizielle erklärt, damit die Hamasführung unter Druck setzen zu wollen. Gleiches galt für die Entscheidung, die Vereinten Nationen als Hauptlieferanten für die Hilfsgüter herabzustufen. Stattdessen wurde im Mai das undurchsichtige Verteilsystem der Gazastiftung GHF eingeführt. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sollen seitdem bis zu 1'000 Menschen an den Ausgabestellen getötet worden sein. Zeugen berichteten, wie Soldaten der israelischen Armee wiederholt auf die Menge geschossen haben sollen.
Ausserdem warnte unter anderen das Kinderhilfswerk Unicef bereits im Juni, dass Tausende Kinder mit Unterernährung diagnostiziert worden seien. Seit dieser Woche eskaliert die Not. Bis zu hundert Menschen sollen bereits verhungert sein. Zuvor hatte Israel viel zu geringe Rationen kalkuliert, wie der Ha'aretz-Journalist Nir Hasson in einer aktuellen Analyse nachrechnet. Demnach «fuhren im vergangenen Monat durchschnittlich 71 Lkw pro Tag in den Gazastreifen. 71 Lastwagen sollten 2,1 Millionen Menschen versorgen. Ein Lastwagen für jeweils 30'000 Menschen». Hinzu sei gekommen, dass viele der Lastwagen geplündert worden seien.
Das Thema der Plünderungen derweil ist zum Streitpunkt zwischen den proisraelischen und propalästinensischen Lagern geworden. Die UN hatten wiederholt erklärt, keine Belege für die Behauptungen Israels zu haben, dass die Hamas Hilfsgüter stehle. Wie die New York Times am Samstag berichtete, fehlen der israelischen Armee tatsächlich Beweise dafür, dass die Hamas «regelmässig» Hilfsgüter der UN gestohlen habe. Wie der Bericht aber auch zeigt, finden Plünderungen statt, allerdings vor allem bei «kleineren Hilfsorganisationen», denen es an der Professionalität und Autorität fehle, die Lieferungen zu überwachen.
Die Recherche der New York Times offenbart damit: Auch bald zwei Jahre nach Kriegsbeginn bleiben die UN die einzige Organisation, der es trotz anhaltender Präsenz der Hamas gelingt, die Hilfsgüter relativ verlässlich zu verteilen. Aus Sicht Israels ist das eine Niederlage. Schliesslich hatten wiederholt befreite Geiseln und Überlebende des Hamas-Angriffs am 7. Oktober 2023 einzelne, personelle Verstrickungen von UN-Mitarbeitenden und Hamas-Terroristen bezeugt, auch wenn Israel keine strukturelle Zusammenarbeit nachweisen konnte. Wie etwa die im Februar freigelassene Geisel Eli Sharabi im März vor dem UN-Sicherheitsrat aussagte, habe er beobachtet, wie Hamas-Terroristen gestohlene humanitäre Hilfsgüter nutzten. «Sie assen vor unseren Augen mehrmals täglich von den UN-Hilfsgütern, und wir bekamen nie etwas davon», sagte Sharabi, der selbst sichtbar abgemagert aus der Gefangenschaft freigelassen wurde.
Wie vergangene Woche das Wall Street Journal berichtete, besteht die Hamas in den Waffenruheverhandlungen darauf, dass die UN und der Palästinensische Rote Halbmond die Hilfslieferungen weiterhin kontrollieren. Demnach sei die Kontrolle über die Lebensmittelversorgung «zum zentralen Streitpunkt» zwischen Israel und der Hamas geworden, wie es in dem Bericht mit Verweis auf arabische Vermittler heisst.
Ebenfalls im Wall Street Journal äusserte sich am Wochenende Yasser Abu Schabab, der als Angehöriger der beduinischen Minderheit und einflussreiches Mitglied des Tarabin-Stammes eine mit der Hamas rivalisierende «Anti-Terror-Miliz» im südlichen Gaza führt, unterstützt mit israelischen Waffen. «Die überwiegende Mehrheit der Bewohner Gazas lehnt die Hamas ab. Sie wollen nicht, dass sie nach Kriegsende an der Macht bleibt», schreibt Abu Schabab, von dem Hamas als auch die UN behaupten, selbst Hilfsgüter zu plündern. So nannte der UN-Beamte Georgios Petropoulos gegenüber der New York Times Schabab einen «selbst ernannten Strippenzieher». Schabab dagegen erklärte, seine Miliz überfalle nur deshalb «die Lastwagen, damit wir etwas zu essen haben, nicht um sie zu verkaufen».
Das zeigt: An dem Streit über die Kontrolle über die Hilfsgüter entscheidet sich, wer die Macht in Gaza halten wird, wenn die Kämpfe enden. Dass es weiterhin kein Abkommen über ein Kriegsende gibt, bedeutet, dass diese Machtfrage weiterhin offen ist. Israels Schritt, mehr Hilfen nach Gaza zu lassen, wird deshalb nicht reichen, um das Leid zu stoppen.
Wie die Gesundheitsbehörden am Sonntagmittag melden, sollen nach israelischem Beschuss erneut mindestens 24 Menschen beim Warten auf Hilfsgüter getötet worden sein.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.