Im November 2020 haben die Einwohner von Pennsylvania sich in einer engen Wahl für Joe Biden entschieden. Die Wählerinnen und Wähler hatten die Schnauze voll vom permanenten Polit-Spektakel aus dem Weissen Haus und sehnten sich nach Ruhe. Bisher schien es, dass bei den Zwischenwahlen im November 2022 wieder die Republikaner die Nase vorn haben würden. Zu gross ist mittlerweile der Frust über explodierende Benzin- und Nahrungsmittelpreise, zu stark die Enttäuschung über die zerstrittenen Demokraten und den führungsschwachen Präsidenten.
Doch nun könnte die Stimmung im klassischen Swingstate erneut kippen, vor allem bei den Frauen und den unabhängigen Wählern. Grund dafür ist ein Leck aus dem Supreme Court. Ein von Richter Samuel Alito verfasster Entwurf ist an die Öffentlichkeit gelangt. Darin wird die Aufhebung von «Roe vs. Wade» begründet. Dieses 1973 in Kraft getretene Urteil sichert den Frauen landesweit zu, bis zur 24. Woche ein Kind legal abtreiben zu dürfen.
«Roe vs. Wade» ist seit bald 50 Jahren der bedeutendste Zankapfel der US-Politik. Bis vor Kurzem schien es jedoch unwahrscheinlich, dass dieses Urteil je revidiert werden könnte. Zu klar zeigen Umfragen regelmässig, dass rund 70 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner das Recht auf Abtreibung grundsätzlich befürworten. Trotzdem dürfte es nun mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit umgestossen werden. Grund dafür sind die drei Richter, welche in der Ära Trump in den Supreme Court gewählt wurden und den Konservativen eine komfortable Mehrheit von sechs gegen drei verschafft haben.
Der juristische Triumph der Konservativen könnte sich jedoch als politischer Bumerang erweisen. In den Swingstates wie Pennsylvania schöpfen die Demokraten deswegen neue Hoffnung. Schwarze, Latinos und Junge könnten dank der bevorstehenden Aufhebung von «Roe vs. Wade» wieder motiviert sein zu wählen, glauben sie.
Umgekehrt müssen die Republikaner fürchten, dass sich die Menschen in den Vorstädten wieder von ihnen abwenden. So erklärt der demokratische Wahlstratege J. J. Balaban gegenüber der «New York Times»: «Die Republikaner haben gehofft, die Menschen in den Vorstädten wieder für sich zu gewinnen, weil diese nicht mehr ständig von Trump genervt werden. Die Abschaffung von Roe wird dies wahrscheinlich wieder auf den Kopf stellen.»
Gleichzeitig haben sich die Chancen von Josh Shapiro, dem demokratischen Kandidaten für das Gouverneursamt in Pennsylvania, deutlich verbessert. Er verspricht, sollte er gewählt werden, ein allfällig vom republikanisch beherrschten Kongress beschlossenes Abtreibungsgesetz mit einem Veto zu verhindern.
Was sich in Pennsylvania abspielt, ist typisch für andere Swingstates. Diese Staaten sind das berüchtigte Zünglein an der Waage. Sie entscheiden, wer im Abgeordnetenhaus und im Senat die Mehrheit stellt.
In Michigan hat die zur Wiederwahl antretende demokratische Gouverneurin Gretchen Whitmer bereits versprochen, ein aus den Dreissigerjahren stammendes bundesstaatliches Abtreibungsverbot nicht durchzusetzen. Sie spielt damit auf einen entscheidenden Punkt in der Kontroverse über die Abtreibung an. Eine Aufhebung von «Roe vs. Wade» bedeutet nämlich nicht, dass Abtreibung landesweit in den USA verboten wird. Es hat zur Folge, dass die einzelnen Bundesstaaten selbst in dieser Sache entscheiden können. Konkret heisst dies, dass in rund 20 Bundesstaaten entweder neue, von konservativen Parlamenten beschlossene Gesetze sofort in Kraft treten, oder alte Abtreibungsverbote wieder aktiviert werden.
Wie ist es überhaupt möglich, dass es die Republikaner und die Evangelikalen geschafft haben, einer deutlichen Mehrheit ihren Willen aufzudrücken? Ein wichtiger Grund besteht darin, dass sie straff organisiert sind. Wie der Sozialwissenschaftler Mancur Olson aufgezeigt hat, gelingt es einer solchen Minderheit immer wieder, sich gegen eine selbstgefällige und verzettelte Mehrheit durchzusetzen. Klassisches Beispiel sind etwa die Bauern, die ihre Anliegen regelmässig gegen die Interessen der Konsumenten durchboxen können.
Auch das politische System Amerikas kommt den Abtreibungsgegnern entgegen. Wie bei uns hat jeder Bundesstaat unabhängig von seiner Grösse ein Anrecht auf zwei Sitze im Senat. Ein Kleinstaat wie Wyoming oder Idaho hat somit das gleiche Gewicht wie Kalifornien oder New York. In diesen kleinen, ländlichen Staaten sind jedoch die Demokraten weitgehend von der Bildfläche verschwunden. Sie werden fast ausschliesslich von der Grand Old Party dominiert. Obwohl sie landesweit in der Minderheit sind, können die Republikaner somit weit über ihrer Gewichtsklasse boxen.
Deshalb ist es auch nicht ausgeschlossen, dass die Republikaner bei einem Sieg bei den Zwischenwahlen alles daran setzen werden, im Kongress ein nationales Abtreibungsverbot durchzusetzen. Mitch McConnell, der Minderheitsführer der GOP im Senat, hat bereits Andeutungen in diese Richtung gemacht. Ein konservativ dominierter Supreme Court und ein republikanisch dominierter Kongress könnten daher die sozialpolitischen Fortschritte und das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung wieder umstürzen. Kein Wunder, macht die Angst vor einem «Handmaiden»-Staat («handmaid» ist zu deutsch «Dienstmädchen») in den USA die Runde. Margaret Atwood beschreibt in ihrem Roman «The Handmaid's Tale» einen dystopischen christlichen Gottesstaat.
Ein Sieg der Republikaner bei den Zwischenwahlen ist jedoch noch keineswegs gesichert. Inflation und Abtreibung sind zwar wichtig, aber nicht allein entscheidend. Die GOP hat noch andere Baustellen: Trumps MAGA-Kandidaten sind oft so extrem, dass sie für die Unabhängigen nicht mehr wählbar sind. Trump selbst wird bei einer allfälligen Rückkehr auf Twitter wieder für Unruhe sorgen.
Im Juni sollen die Hearings stattfinden, in denen der Sturm auf das Kapitol aufgerollt wird. Die Ergebnisse werden kaum für die GOP sprechen. Der Kulturkrieg droht, ausser Kontrolle zu geraten, wie der Streit gegen die Disney Corp. in Florida zeigt. Und die Absicht von Rick Scott, einem bedeutenden Republikaner, neue Steuern für den Mittelstand zu erheben, ist ebenfalls kein Hit bei den Wählern.
Schliesslich gibt es noch den Faktor Zeit. Bis zu den Zwischenwahlen dauert es noch ein knappes halbes Jahr. In der schnelllebigen Politik der Gegenwart ist dies eine halbe Ewigkeit.
1 Stein
ReMoo