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Kampf um Cherson: Keine guten Aussichten für die russischen Truppen

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Kampf um Cherson: Keine guten Aussichten für die russischen Truppen

Für die Besatzer von Cherson wird die Lage immer aussichtsloser. Ein ukrainischer Frontalangriff auf die Stadt wäre allerdings ungewöhnlich.
15.10.2022, 20:07
Martin Küper / t-online
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t-online

Es sind keine guten Aussichten für die russischen Truppen in Cherson. Seit Wochen rücken die Ukrainer mit ihrer Gegenoffensive auf die Regionalhauptstadt im Süden des Landes vor und haben dabei laut Kiew zuletzt 75 Ortschaften befreit. Noch toben die Kämpfe nicht unmittelbar vor der Stadt, doch der Anschlag auf die Krim-Brücke am Wochenende erschwert die ohnehin prekäre Versorgungssituation der russischen Truppen in der Region weiter. Nun wächst offenbar die Nervosität unter den Besatzern.

So jedenfalls lässt sich ein öffentlich ausgetragener Streit in der russisch kontrollierten Besatzungsverwaltung deuten. Am Donnerstag rief deren Chef, Wladimir Saldo, Zivilisten zur Flucht aus Cherson auf und bat den Kreml um logistische Unterstützung zur Evakuierung der Menschen in andere russisch kontrollierte Gebiete. Doch nachdem Russlands Vize-Ministerpräsident Marat Khusnullin schon Hilfe aus Moskau zugesagt hatte, meldete sich plötzlich Wladimir Saldos Stellvertreter Kirill Stremousow mit einer ganz anderen Botschaft zu Wort.

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Machtkampf unter Besatzern?

«Es gibt keine Evakuierung in Cherson und die darf es auch nicht geben», schrieb Stremousow in offenem Widerspruch zu den Angaben seines Chefs auf Telegram. Saldos Appell an Moskau zur Unterstützung bei Evakuierungen sei kein Aufruf zur Flucht an die Bevölkerung, so Stremousow. Die Menschen sollten nur vorübergehend «zur Erholung» in andere Gebiete reisen. Das hatte bei Saldo allerdings ganz anders geklungen: «Nehmen Sie Ihre Kinder mit und gehen Sie», hatte der in einer ebenfalls auf Telegram veröffentlichten Videobotschaft an die Bevölkerung appelliert.

Unklar ist, was hinter den widersprüchlichen Stellungnahmen von Saldo und Stremousow steckt. Ein Machtkampf unter den Besatzern oder einsetzende Panik, wie der ukrainische Regierungsberater Anton Geraschtschenko frotzelte? Das britische Verteidigungsministerium nimmt die Hinweise auf eine bevorstehende Evakuierung jedenfalls ernst. «Es ist wahrscheinlich, dass die Besatzer mit einer Ausweitung der Kämpfe auf die Stadt Cherson rechnen», schrieb das Ministerium am Donnerstag in seinem täglichen Lagebericht. Dieses auf Twitter verbreitete Video soll ein kürzlich befreites und völlig zerstörtes Dorf in der Region Cherson zeigen:

Ukrainer vermeiden Frontalangriffe

Vor dem Krieg hatte Cherson fast 300'000 Einwohner, es ist die grösste Stadt in der Ukraine unter russischer Kontrolle. Für den Kreml hat die Stadt aber nicht nur symbolische Bedeutung als Kriegstrophäe, sondern ist auch von immenser strategischer Bedeutung für die russische Präsenz auf der besetzten Halbinsel Krim. Sollte die am Nordufer des Dnipro gelegene Stadt zurück an die Ukraine fallen, wäre der Weg frei für einen ukrainischen Vormarsch auf die Krim von Nordwesten her. Fraglich ist, ob die ukrainische Armee die Stadt direkt erobern und damit einen blutigen und verlustreichen Häuserkampf riskieren will. Auf dieser Karte der US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) ist der aktuelle Frontverlauf in der Region zu erkennen:

Bei ihren bisherigen Vorstössen haben die Ukrainer Frontalangriffe auf russische Stellungen vermieden. Stattdessen setzen sie auf schnelle Durchbrüche an den Schwachpunkten der gegnerischen Verteidigungslinien, um die russischen Truppen dann einzukreisen oder vom Nachschub abzuschneiden. Auf diese Weise haben sie die Russen zuletzt immer wieder aus deren Stellungen vertrieben und zur Aufgabe grosser Gebiete gezwungen, sowohl im Süden des Landes als auch im Nordosten in der Region Charkiw. Teil dieser Taktik ist die systematische Zerstörung der russischen Kriegslogistik mithilfe westlicher Artilleriewaffen.

Mehr als 1000 Lkw stauen sich vor der Krim-Brücke

In der Region Cherson haben die Ukrainer seit August praktisch alle Brücken über den Dnipro und den östlich der Stadt verlaufenden Inhulez zerstört oder so stark beschädigt, dass die Russen ihre Truppen in der Stadt kaum noch mit Nachschub versorgen können. Auch ein geordneter Rückzug aus Cherson dürfte der russischen Armee kaum noch möglich sein, da sie ihr schweres Kriegsgerät nicht allein mit Fähren und Behelfsbrücken über die Flüsse Richtung Süden schaffen kann. Unklar ist, wie viele russische Soldaten überhaupt in Cherson stationiert sind.

Klar ist nur, dass ihre Lage nach dem Anschlag auf die Krim-Brücke noch aussichtsloser geworden ist. Seit Samstag ist kein Zug mehr über das schwer beschädigte Bauwerk aus Russland Richtung Ukraine gerollt, auch der Strassenverkehr ist so weit eingeschränkt, dass sich inzwischen mehr als 1000 Lkw vor der Brücke stauen, wie aus Satellitenbildern hervorgeht. Die Brücke zwischen der Krim und dem russischen Festland war die wichtigste Lebensader der Truppen bei Cherson, die jetzt nur noch über eine einzige Schienenverbindung in russisch kontrolliertes Gebiet verfügen. Diese Strecke liegt allerdings in Reichweite der ukrainischen Artillerie.

Die ukrainische Armee hat es bislang verstanden, Gegner und Verbündete über ihre nächsten Schritte im Dunkeln zu lassen. So sprach die Führung in Kiew im Sommer wochenlang von einer bevorstehenden Grossoffensive auf Cherson und brachte die Russen so dazu, ihre Truppen in der Region zu verstärken auf Kosten ihrer Stellungen im Nordosten bei Charkiw. Dort schlug die ukrainische Armee dann mit einer Blitzoffensive zu und befreite innerhalb weniger Tage Tausende Quadratkilometer und Hunderte Ortschaften. Allein die Ungewissheit über das weitere Vorgehen der Ukrainer dürfte die Moral der abgekämpften russischen Truppen weiter schwächen.

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49 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Schlaf
15.10.2022 21:14registriert Oktober 2019
Ganz üble Scheisse, wenn man seine eigene Heimat zerstören muss, um sie von den Besatzern zu befreien.
Das ganze ist so ein sinnloses Trauerspiel, dass ein Mensch beenden könnte. Auf dem Buckel von millionen Menschen, versucht ein Irrer seinen eigenen Grössenwahn zu befriedigen.
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Juliet Bravo
15.10.2022 21:59registriert November 2016
Die Krimbrücke war Gold wert. Die von den Russen propagierte, und in hiesigen Medien wiedergegebene Behauptung, die Züge würden (nicht mal 1 Tag nach den Sprengungen) wieder mehr oder weniger nach Fahrplan über die Brücke fahren, stellt sich als das heraus, was es war: Propaganda.
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Liebu
15.10.2022 22:40registriert Oktober 2020
auch der Strassenverkehr ist so weit eingeschränkt, dass sich inzwischen mehr als 1000 Lkw vor der Brücke stauen, wie aus Satellitenbildern hervorgeht.

Mit Staus „bauen“ haben die Russen ja seit Beginn des Krieges Erfahrungen gesammelt, deshalb sind sie mittlerweile sehr gut darin.

Nein. Die Ukrainer setzen einfach ihre Mittel viel effektiver ein, womit die Russen überhaupt nicht klar kommen.
Aber ja. Alles verläuft nach Plan.
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