Der Westminster Palace ist ein imposantes Bauwerk. Unübersehbar steht der Sitz des britischen Parlaments am Ufer der Themse in London, ein Monument der Demokratie. Im Innern aber ist der Palast vollkommen marode, er zerbröckelt an allen Ecken und Enden. Seit Jahren wird über eine Totalsanierung und die Ausquartierung des Parlaments gestritten. Sie wird Milliarden verschlingen.
Der Zustand des vermeintlichen Prunkbaus ist symptomatisch für die britische Politik. Sie implodiert gerade in einem atemberaubenden Tempo. Die erste Debatte im Unterhaus nach den Sommerferien am Dienstag offenbarte dies in aller Deutlichkeit. Erst verlor Boris Johnson seine rechnerische Mehrheit im Parlament und schliesslich seine erste Abstimmung als Premierminister.
Während Johnsons Grundsatzrede wechselte der konservative Abgeordnete Phillip Lee die Seiten und lief zu den Liberaldemokraten über. Damit war die eine Stimme Mehrheit dahin, welche die Tories zusammen mit der nordirischen DUP besassen. Am Ende votierte das Parlament dank 21 Tory-Rebellen für eine Verschiebung des EU-Austrittsdatums um drei Monate auf den 31. Januar 2020.
Der entnervte Johnson erklärte darauf, er werde keinesfalls in Brüssel um einen Brexit-Aufschub bitten. Gleichzeitig drohte er mit Neuwahlen. Die «aufständischen» Tories, darunter ein Enkel des von Johnson glühend bewunderten Winston Churchill, wurden aus der Fraktion ausgeschlossen. Sie «verloren die Peitsche», wie es in der oft ziemlich farbigen britischen Politsprache heisst.
«Das Tempo und die Bedeutung der Ereignisse diese Woche in Westminster ist gleichzeitig monumental und schwindelerregend», brachte es BBC-Politikchefin Laura Kuenssberg auf den Punkt. Eingespielte Verfahren werden auf den Kopf gestellt. Die Konfusion ist total, kaum jemand hat noch den Durchblick. Nun scheint gleichzeitig alles und gar nichts mehr möglich.
Hier ein Versuch, das Chaos ein wenig zu entwirren:
Die jahrhundertealte britische Demokratie ist auf klare Verhältnisse ausgerichtet. Ein rigoroses Majorzsystem sorgt bei Wahlen in der Regel für deutliche Mehrheiten. Das Parlament ist kaum mehr als eine Art ausführendes Organ der Regierung, die Minister behalten ihre Sitze im Unterhaus. Am Dienstag aber riss das Parlament faktisch die Kontrolle über den Brexit an sich.
Das kommt einer mittleren Revolution gleich. Eine Schlüsselfigur ist «Speaker» John Bercow, der sich seit seinem Amtsantritt vor zehn Jahren bemüht, die Befugnisse der Volksvertretung auszuweiten. Nun muss das Parlament den Brexit-Aufschub als Gesetz beschliessen, und zwar vor Beginn der von Johnson verordneten «Zwangspause», also möglichst bis Sonntag.
Dafür muss nach dem Unter- auch das Oberhaus zustimmen, das House of Lords, die Kammer der Adeligen und Bischöfe. Das könnte zum Problem werden. Konservative Lords könnten das Gesetz durch einen Filibuster, also Dauerreden, so weit verschleppen, dass eine rechtzeitige Verabschiedung nicht möglich ist. Ein Antrag, der dies unterbinden will, liegt bereits vor.
Selbst wenn diese Hürde genommen wird, müsste die Queen das Gesetz unterschreiben. Der Premierminister könnte ihr jedoch «raten» (im Klartext befehlen), ihre Signatur zu verweigern. Das aber wäre ein unbeschreiblicher Affront, die 93-jährige Königin würde tief in den politischen Sumpf gezogen. Diese Vorstellung sei «ein Horror» für Elizabeth, sagt einer ihrer Biografen.
Teil des Problems ist, dass das Königreich über keine schriftliche Verfassung verfügt. Vieles ist eine Auslegungsfrage. Das gilt auch für die Parlamentspause, die so genannte Prorogation. Sie soll eine neue Legislatur und die Thronrede der Queen vorbereiten, bei der sie das Programm der Regierung vorträgt. Aber was macht das für einen Sinn bei einer Regierung ohne Mehrheit?
Das Parlament will das Austrittsdatum verschieben. Boris Johnson aber hält am 31. Oktober fest. Er betonte am Dienstag, er wolle einen vertraglich geregelten Brexit. Laut seinem umstrittenen Berater Dominic Cummings aber verhandelt die Regierung nur zum Schein mit der EU. Eigentlich strebe sie einen No-Deal-Brexit an, berichtete der «Telegraph», Boris Johnsons Ex-Arbeitgeber.
Die EU-Kommission jedenfalls verstärkte am Dienstag ihre Vorbereitungen für einen ungeregelten Austritt. Sie wartet gemäss einer Sprecherin nach wie vor auf konkrete Vorschläge aus London für den grössten Knackpunkt beim Brexit, den sogenannten Backstop, mit dem Zollkontrollen an der Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und Nordirland verhindert werden sollen.
Nach dem Verlust der Regierungsmehrheit sind Neuwahlen unvermeidlich. Die Frage ist nur, wann und wie. Das Parlament könnte sich mit einer Zweidrittelmehrheit selbst auflösen. Labour-Chef Jeremy Corbyn fordert seit Monaten Neuwahlen. Nun aber macht er seine Zustimmung davon abhängig, dass ein chaotischer No-Deal-Brexit ausgeschlossen wird.
Möglich wäre auch ein Rücktritt Johnsons oder sein Sturz durch ein Misstrauensvotum. In beiden Fällen bekäme Corbyn als Oppositionsführer die Möglichkeit, innerhalb von 14 Tagen eine neue Regierung zu bilden. Ein «Buebetrickli» für den Premierminister wäre, ein Neuwahldatum per Gesetz zu beschliessen. Dafür bräuchte er nur eine einfache Mehrheit.
Boris Johnson würde am liebsten nach einem EU-Austritt am 31. Oktober wählen lassen. Er sieht in diesem Fall die besten Siegeschancen. Nun könnte die Neuwahl bereits am 15. Oktober stattfinden, nur zwei Tage vor dem nächsten EU-Gipfel. Für Johnson ist dieser Zeitpunkt riskant, er muss befürchten, dass ihm die Brexit-Partei von Nigel Farage in die Parade fährt.
Farage betonte am Dienstag, er sei nur bei einem garantierten No-Deal-Brexit zum Rückzug bereit. Er verlangt also das Gegenteil von Jeremy Corbyn. Die Meinungsforscher sind sich über Johnsons Wahlchancen ohnehin nicht einig – wie könnte es in diesen struben Zeiten auch anders sein. So droht den Tories der Verlust eines grossen Teils ihrer 13 Sitze in Schottland.
Weitere Faktoren kommen hinzu. Eine Klage gegen die Parlamentspause wurde am Mittwoch von einem schottischen Gericht abgewiesen. Am Donnerstag berät der High Court in London über den gleichen Fall. Ein zweites Brexit-Referendum könnte vielleicht die Blockade in London auflösen. Aber Probleme wie die irische Grenzfrage blieben damit ungelöst.
Der frühere Premierminister David Cameron wollte mit der Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft des Königreichs für klare Verhältnisse sorgen. Geschehen ist das genaue Gegenteil. Der Brexit dürfte die britische Politik nachhaltig verändern. Oder wie es Laura Kuenssberg festhielt: «Die einzige Gewissheit besteht vielleicht darin, dass nichts so bleiben wird, wie es ist.»
Selbst die Menschen in London die ich kenne sehen so langsam ein, dass es nie dazu kommen wird.