In Brüssel gab es am Donnerstag eine denkwürdige Premiere: drei Gipfeltreffen an einem Tag. Erst versammelten sich die Staats- und Regierungschefs des Verteidigungsbündnisses Nato, gefolgt vom Treffen der sieben führenden demokratischen Wirtschaftsmächte (G7). Der japanische Ministerpräsident Fumio Kishida war eigens dafür nach Europa gereist.
Am Abend folgte ein lange traktandierter EU-Gipfel, an dem erstmals ein amerikanischer Präsident persönlich als Gast anwesend war. In Europa ist die Erleichterung gross, dass im Weissen Haus nicht mehr der irrlichternde Putin-Versteher Donald Trump regiert, sondern der erfahrene Aussenpolitiker und überzeugte Atlantiker Joe Biden.
Diese Einstellung spricht Bände. Sie zeigt, wie sehr Europa vor allem im Sicherheitsbereich nach wie vor von den USA abhängig ist. Und wie sehr Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine vor einem Monat die westlich-demokratische Staatengemeinschaft erschüttert hat. Die Rückkehr des Krieges nach Europa war für viele ein Schock – und ein Weckruf.
Er schweisste das demokratische Lager zusammen. Bei genauer Betrachtung hat die Einigkeit Risse, etwa wenn es um die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas geht. Der Begriff «Zeitenwende», den der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz verwendete, aber hat seine Berechtigung. Denn der Westen ist jäh aus seiner Selbstgefälligkeit gerissen worden.
Man hört diesen Begriff häufig seit Beginn der russischen Invasion. Er umschreibt ziemlich genau die Mentalität, die sich seit dem Ende des Kalten Kriegs vor 30 Jahren in der westlichen Welt verbreitet hat. Damals schien der Siegeszug von liberaler Demokratie und freier Marktwirtschaft (Francis Fukuyamas «Ende der Geschichte») unaufhaltsam zu sein.
Aus westlicher Sicht bedeutete er Freiheit und Wohlstand für die gesamte Menschheit. Tatsächlich setzte in den Jahren nach dem Untergang des Kommunismus eine Welle der Demokratisierung ein. Dank «Wandel durch Handel» würden sich auch autoritär regierte Staaten wie China dem Trend nicht entziehen können, waren kluge Köpfe überzeugt.
Mit dieser selbstgefälligen Haltung verjubelte der Westen seine «Friedensdividende». Dabei blieben Irritationen nicht aus. Kurz nach dem Ende des Kalten Kriegs zerbrach das Gebilde namens Jugoslawien, nicht weitgehend friedlich wie der Ostblock zuvor, sondern mit brutaler Gewalt. In Ruanda ereignte sich ein Völkermord mit mehr als einer Million Opfer.
Der Westen reagierte betroffen und fühlte sich nicht wirklich betroffen. Er ignorierte, dass Erfolg Neid provoziert. Eine Gegenreaktion auf die westliche Dominanz braute sich in der an Minderwertigkeitskomplexen laborierenden islamischen Welt zusammen. Sie entlud sich am 11. September 2001 in einem terroristischen Akt von beispielloser Dimension.
Die USA reagierten vehement und machten so ziemlich alles falsch, mit ihren Kriegen in Afghanistan und im Irak, die auf Selbstüberschätzung und Lügen basierten. Islamistische Fanatiker verübten weitere verheerende Anschläge in Europa. Der «Arabische Frühling» von 2011 war ein kurzer Hoffnungsschimmer, der im Westen erneut Illusionen erzeugte.
Ernsthaft gefährdet war der Westen durch den islamistischen Terror jedoch nie. Dieser hat keine positive Vision, ausser ein imaginäres Paradies nach dem Märtyrertod. Die Fixierung auf den Islam war letztlich kontraproduktiv. Sie lenkte ab von den beiden autoritären Mächten, die sich zu einer echten Bedrohung entwickelten: China und Russland.
Beide sind von Ressentiments und revanchistischen Reflexen geprägt, die vor Widersprüchen nur so strotzen. Sie fühlen sich vom Westen erniedrigt und ihm gleichzeitig überlegen. Sie halten ihn für dekadent und im Niedergang begriffen, betrachten ihn aber auch als Bedrohung. Logik ist nicht unbedingt eine Stärke diktatorischer Regime.
Gleiches gilt für Selbstkritik, ausser es handelt sich um stalinistische Selbsterniedrigung. Sonst müssten sich Russland und China eingestehen, dass sowohl der Zerfall der Sowjetunion als auch das «Jahrhundert der Demütigung» des Reichs der Mitte durch den westlichen Imperialismus zu einem beträchtlichen Teil selbst verschuldet waren.
Aber auch der Westen muss sich an der Nase nehmen. Er hat zu lange die Bedrohung unterschätzt, die von dieser toxischen Gemengelage ausging, und zu lange auf die wirtschaftlichen Beziehungen gesetzt. Niemand verkörpert diese Ignoranz besser als die deutsche Langzeit-Kanzlerin Angela Merkel. Den Preis bezahlt nun die Ukraine.
Die mit dem Ende des Kalten Kriegs verbundene wirtschaftliche Globalisierung hat den Westen abhängig gemacht von russischer Energie und chinesischen Exporten. Selbst die Produktion strategisch wichtiger Güter wurde in das «Wirtschaftswunderland» ausgelagert. Umgekehrt stürzten sich westliche Firmen auf den lukrativen «Zukunftsmarkt».
Ein weiterer zwiespältiger Aspekt war die vom Neoliberalismus motivierte Deregulierung der Finanzmärkte. Sie verstärkte in der westlichen Welt nicht nur die Ungleichheit, sondern erzeugte auch die Finanzkrise von 2008. Sie führte in China zur Überzeugung, dass seine staatlich gelenkte Wirtschaft dem Kapitalismus amerikanischer Prägung überlegen ist.
Unter Staatschef Xi Jinping legte China zudem seine aussenpolitische Zurückhaltung ab. Dazu passt die Weigerung, sich von Wladimir Putins Krieg in der Ukraine zu distanzieren. In Peking scheint man die Chance zu wittern, im Verbund mit Russland Fukuyamas «Ende der Geschichte» neu zu kalibrieren und die westliche Dominanz zu beerdigen.
Es sind keine erbaulichen Perspektiven für die westlich-demokratische Gemeinschaft, zumal sie auch von innen bedroht wird, durch «illiberale» Pseudo-Demokratien. In den USA rüttelt die Republikanische Partei immer unverhohlener am Fundament der demokratischen Ordnung. Wenn aber dieser Leuchtturm der Freiheit erlischt, wird es finster auf der Welt.
Zwar glauben Optimisten wie Francis Fukuyama, dass der Ukraine-Krieg den «Geist von 1989» wieder beleben kann. Dafür aber ist mehr Realismus notwendig. Wenn der Westen sich gegen den Trend zum Autoritarismus behaupten will, muss er – nicht nur militärisch – resilienter werden und sich vermehrt gegen rechte wie auch linke Identitätspolitik abgrenzen.
Wirtschaftlich sei «ein strategisches Redesign der Lieferketten notwendig, um autokratische Länder daran zu hindern, den Westen einzuschüchtern», räumt selbst der «Economist» ein, der sich seit Jahrzehnten für den Freihandel stark macht. Das allerdings ist leichter gesagt als getan und bedingt aufwändige und oft schmerzhafte Anpassungen in vielen Bereichen.
Kurzfristig wird dies zu Verwerfungen führen, wegen der hohen Inflation und der beträchtlichen Schuldenlast. Dies könnte soziale Spannungen erzeugen und sich negativ auswirken auf eine weitere epochale Herausforderung, die Klimakrise. Die Bewältigung dieser Probleme wird zum Härtetest für die neue Einigkeit der Demokratien.
Helfen könnte dem Westen, dass er im Vergleich mit den Autokratien in Sachen Soft Power unschlagbar bleibt. Kein Land zieht so viele Menschen an wie die USA. Auch Russland und China sind grosse und ruhmreiche Kulturnationen, doch nicht nur wegen Putins barbarischem Angriff auf sein Nachbarland fehlt es ihnen an Sexappeal.
Ausserdem sind beide Mächte nicht so stabil, wie sie wirken. Russland kann den Krieg gewinnen, dürfte danach aber so geschwächt sein, dass es im Verbund mit China nur die zweite Geige spielen wird. Was kaum Putins Ego entspricht. Und China leidet unter strukturellen Problemen (Überschuldung, rasche Alterung der Gesellschaft).
Der Westen hat in den letzten 30 Jahren vieles falsch gemacht und zu sehr seiner Selbstgefälligkeit gehuldigt. Sein gesellschaftliches und wirtschaftliches Modell bleibt attraktiv, sofern die notwendigen Korrekturen angebracht werden. Kurzfristig aber drohen harte Zeiten. Darüber kann die Brüsseler Gipfel-Dreifaltigkeit nicht hinweg täuschen.
Was wäre, wenn es die EWG, EG und die resultierende EU nicht gegeben hätte. Gehört das auch zum „falsch gemacht“?
Es wären andere Konflikte entstanden, evtl. wäre Europa als grosser Teil der nicht zerfallenen Sowjetunion geworden. Oder unser Wohlstand wäre nicht so schnell und hoch gewachsen, wenn man China nicht als Billigproduktionsland ausnutzte & hochgebracht hat.
Jetzt ist wichtig!
Wenn man die Entwicklungsländern nur dazu nutzt zu Dumpinglöhnen und Umgehung "unserer" Gesetze zu produzieren, bleibt man abhängig von korrupten Verwaltungen und fördert den Wohlstand kaum.
Das Lieferkettengesetz, welches die EU aktuell erarbeitet geht in diese Richtung und ist ein wichtiger Schritt.
Wäre alles was ich dieser Zusammenfassung noch beizufügen hätte.