Ein sanftmütig lächelnder Mann mit Brille hat die Mächtigen eines mächtigen Landes in Angst und Schrecken versetzt. Liu Xiaobo, Dissident und Friedensnobelpreisträger, wurde ins Gefängnis gesteckt, weil er Freiheit und Demokratie in der Volksrepublik China gefordert hatte. Die Führung der Kommunistischen Partei liess ihn nicht einmal frei, als er schwer krebskrank war.
Am Donnerstag ist Liu gestorben. Sein Tod wurde in China totgeschwiegen. Gegen Kritik aus dem Ausland verwahrte sich die KP, dies sei «Einmischung in die inneren Angelegenheiten». Wobei diese Kritik ohnehin zahm und ritualisiert wirkte. Man will es sich mit dem wirtschaftlichen Wunderland China nicht verderben. Wo Staatschef Xi Jinping auftaucht, wird er hofiert.
Zum Beispiel Anfang Jahr in Bern und Davos, oder letzte Woche am G20-Gipfel in Hamburg. Am Stelldichein der Mächtigen nahmen trübe Figuren teil: Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan, Donald Trump. Man kann die Legitimität dieses Gremiums hinterfragen, obwohl es nicht falsch ist, dass die wirtschaftlich führenden Länder sich um Regeln für die Globalisierung bemühen.
Zehntausende sind nach Hamburg gepilgert, weil sie sich über alles nerven, was aus ihrer Sicht auf dieser Welt schief läuft, Globalisierung und Kapitalismus vorneweg. «We are fucking angry», hiess es auf dem Laster, der die «Welcome to Hell»-Demo anführte. Am Ende artete sie aus und mündete in den Krawallen und Plünderungen im Schanzenviertel.
Die Polizei geriet nicht zu Unrecht in die Kritik. Mal griff sie zu früh durch, dann zu spät. Wenn jedoch der Sprecher des autonomen Kulturzentrums Rote Flora beklagte, dass die Marodeure in «seinem» Schanzenviertel gewütet haben und nicht in Pöselsdorf oder Blankenese, wo die Reichen und Privilegierten wohnen, wird es prekär.
«Auf dieser Basis moralisch empört zu sein, ist widerlich», schrieb «Die Zeit» aus Hamburg in einer langen und vertieften Analyse. Vor allem werfen solche Aussagen ein Schlaglicht auf die dumpfen Hassgefühle im linksalternativen Milieu. Sie richten sich gegen die Reichen und Mächtigen, aber am Ende ist es egal, wo sie sich entladen. Hauptsache man kann die Sau rauslassen.
Die eigentliche Problematik wurde kaum einmal angesprochen. Die G20-Gegner sind nicht nach Hamburg gereist, weil es in der Hansestadt eine etablierte Kultur des linken Widerstands gibt. Sie haben sich diesen Gipfel ausgesucht, weil sie in Deutschland den Schutz der Rechtsstaatlichkeit geniessen. In einer liberaldemokratischen Komfortzone lässt es sich leicht demonstrieren.
In Moskau, Peking oder Riad aber würden sich diese Weltverbesserer niemals blicken lassen. Sie wissen, was sie dort erwartet. Man stelle sich vor, die famosen Antikapitalisten des Schwarzen Blocks würden mit der berüchtigten russischen Sonderpolizei Omon konfrontiert. Sie würden sich vor Schreck vermutlich in die Hosen machen. Und mit Sicherheit keine Steine werfen.
Dabei gibt es Menschen, die sich auch in autoritären Ländern mutig gegen die Staatsmacht stellen. Zum Beispiel Liu Xiaobo, der sich nach dem Motto «Wenn unfrei, dann richtig» lieber einsperren liess, als seine Überzeugungen zu verraten. Oder die jungen Russen, die gegen das hoch korrupte Putin-System demonstrieren, in dem nur voran kommt, wer die richtigen Beziehungen hat.
Am letzten Wochenende, als die Wohlstandsjugend in Hamburg auf die Strasse ging, wurden in russischen Städten erneut Dutzende verhaftet. Sie sind die wahren Helden der heutigen Zeit, denn sie können nicht einfach den Sonderzug Richtung Heimat besteigen, wenn sie sich ausgetobt haben.
Und sie haben konkrete Ziele. Im Gegensatz zu den Anti-Kapitalisten, die die Errungenschaften des Kapitalismus durchaus schätzen, etwa wenn sie sich via Smartphone und Apps organisieren. Sie wissen eigentlich nur, wogegen sie sind. Gegen Armut und Ausbeutung zum Beispiel. Gerade die verhasste Globalisierung hat unzählige Menschen aus der Armut befreit. Oder gegen Krieg und Gewalt. Dabei war die Welt wohl noch nie so friedlich wie heute, trotz Terror und Kriegen.
Es gibt durchaus Aspekte am kapitalistischen System, die kritisch beleuchtet werden müssen. Das räumt sogar die marktliberale NZZ ein. Zum Beispiel die wachsende Ungleichheit in den westlichen Ländern. Die unheimliche Macht der Internet-Giganten. Oder den technokratischen Machbarkeitswahn, der bei Gentech oder künstlicher Intelligenz zum Ausdruck kommt.
Fragt man die Globalisierungsgegner, erwähnen sie etwa den «solidarischen Protektionismus». Das aber ist ein Widerspruch in sich. Abschottung ist nie solidarisch. Konkrete Vorschläge zu diesem Konzept sind nicht praxistauglich. Das Fehlen konkreter und umsetzbarer Ideen ist einer der Gründe, warum keine der diversen Protestbewegungen der letzten Jahre nachhaltig war.
Occupy, Nuit Debout oder Los Inidgnados mögen in rudimentärer Form weiter existieren. Als Massenbewegung aber ging ihnen irgendwann die Luft aus. Nicht einmal in Griechenland, das unter dem Diktat einer harten Sparpolitik ächzt, oder in Trumps Amerika konnte sich eine starke Protestbewegung etablieren. Bei der wohlstandsverwöhnten Jugend war die Sehnsucht nach dem warmen Bett am Ende stärker als die Empörung über Missstände.
Der Ökonom Tyler Cowen sieht darin ein perfektes Beispiel für die Selbstzufriedenheit, die er in seinem neuen Buch beschrieben hat. Dennoch rechnet er damit, dass es in absehbarer Zeit wieder zu grossen Protesten kommen wird, wie er im watson-Interview ausführte. Vielleicht kommt es so, vielleicht nicht. Denn man darf die kreativen Kräfte des Kapitalismus nie unterschätzen.
Was uns nicht daran hindern soll, die vorhandenen Fehlentwicklungen anzugehen. Zum Beispiel mit der Tobin Tax, einer Steuer auf Finanztransaktionen. Sie ist ein überzeugendes, und vor allem umsetzbares Konzept, doch sie ist auch ein Beispiel für die Schattenseiten der Globalisierung. Niemand will der erste sein, der sie einführt, aus Angst vor wirtschaftlichen Nachteilen.
Die Tobin-Steuer ist auch ein Anliegen der linken Weltverbesserer. Mit Demonstrationen lässt sie sich nicht verwirklichen. Dafür braucht es harte Knochenarbeit, in Politik oder NGOs. Einfacher ist es, die Segnungen der freiheitlichen Gesellschaft für inhaltsleere Proteste und ein wenig Randale zu missbrauchen. Während Liu Xiaobo und andere dafür in den Knast gingen.
Der nächste G20-Gipfel findet übrigens in Argentinien statt. Auch ein relativ freies Land. Aber vielleicht etwas weit weg.