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Roboter und künstliche Intelligenz sind im Begriff, unsere Wirtschaft umzukrempeln und eine neue Gesellschaft zu schaffen. Variationen dieses Themas kann man derzeit fast täglich in den Medien lesen. Die Vierte Industrielle Revolution werde jeden zweiten Arbeitsplatz vernichten, reihenweise Berufe zerstören und die Produktivität der Wirtschaft auf eine neue Stufe hieven, heisst es jeweils.
Zu den bekanntesten Vertretern dieser These gehören Andrew McAfee und Erik Brynjolfsson. Beide sind am renommierten MIT in Cambridge (USA) tätig, der amerikanischen Antwort auf die ETH. Zusammen haben sie das Kultbuch «The Second Machine Age» verfasst. In der neuesten Ausgabe von «Foreign Affairs» bekräftigen sie ihre These. «Der technische Aufschwung hat erst begonnen und es wird noch sehr viel mehr kommen», schreiben sie. «(...) Das bedeutet, dass weltweit die Anzahl der Erfinder, Unternehmer und Geeks rasch wächst und damit auch das Potenzial für weitere Durchbrüche.»
Robert Gordon, ein renommierter Ökonomieprofessor an der Northwestern University, hält das für Hype und warme Luft. In seinem Buch «The Rise and Fall of American Growth» tritt er den Gegenbeweis an. Seine These lässt sich wie folgt zusammenfassen: Computer, Internet und intelligente Software sind letztlich oberflächliche Phänomene, die unser Leben nur marginal verändern, zumindest im Vergleich zu den vorhergehenden Innovationen.
Strom und Verbrennungsmotor, sanitäre Einrichtungen und Autobahnen hingegen, so Gordon weiter, hätten unser Leben auf eine neue Entwicklungsstufe gehoben. Aus Menschen, deren Leben in Anlehnung an Thomas Hobbes berühmtes Diktum «hässlich, brutal und kurz» gewesen war, seien Menschen geworden, die nun ein erfülltes und auch viel längeres Leben geniessen könnten. Man könnte auch etwas salopp sagen: Die Waschmaschine und Wassertoilette haben unseren Alltag viel stärker verändert, als Google und Facebook es je tun werden.
Die entscheidenden Durchbrüche sind gemäss Gordon in einem Zeitraum von rund 100 Jahren erfolgt, nämlich zwischen dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges und dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Er beschreibt dabei die Entwicklung in den USA, sie trifft aber mehr oder weniger für alle entwickelten Länder zu. Ein Punkt ist dabei besonders wichtig:
Tatsächlich war das Leben der meisten Menschen in den entstehenden Industriestaaten kein Zuckerschlecken. Als Farmer oder Cowboy, in Schlachthöfen oder Fabriken, musste man hart, lange und gefährlich arbeiten. Die Frauen waren mit Kochen, Putzen, Waschen und dem Aufziehen der vielen Kinder ebenfalls rund um die Uhr beschäftigt.
Die Menschen hausten in schlecht geheizten Häusern oder Wohnungen in derart unhygienischen Zuständen, die heute unvorstellbar geworden sind. Sie assen eintönige Nahrung und hatten wenige und grobe Kleider. Die Städte besassen kein Abwassersystem, der Pferdemist lag zentimeterhoch auf den Strassen. Es stank fürchterlich. Auf dem Land herrschte bittere Armut und immerwährende Eintönigkeit.
Diese Bedingungen sind teilweise heute noch in den Entwicklungsländern anzutreffen. Bis zum amerikanischen Bürgerkrieg galt dies auch für die Mehrheit der Menschen in den USA:
Strom und der Verbrennungsmotor bilden die Grundlage der fundamentalen Veränderungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzten. Elektrisches Licht und ein erschwingliches Auto für alle, fliessendes Wasser im Haus und ein Abwassersystem in der Stadt, Warenhäuser, Kleinkredite, Langstreckenjets, Telefon, Waschmaschine, Airconditioning, Autobahnen, Convenience Food, Radio, TV und der medizinische Fortschritt ermöglichten einen wohlhabenden Mittelstand.
Für die USA spielte der Zweite Weltkrieg auch ökonomisch gesehen eine entscheidende Rolle. Die Grosse Depression der 30er-Jahre war wie weggeblasen, weil die Kriegswirtschaft schlagartig das ganze Land erfasste. Die Effizienz der Wirtschaft nahm phänomenal zu.
Ein bekanntes Beispiel ist die Kaiser-Werft in Richmont. 1942 brauchte sie acht Monate, um ein Kriegsschiff herzustellen, ein Jahr später waren es noch ein paar Wochen. Zusätzlich beseitigte der Krieg die Massenarbeitslosigkeit und schweisste die Menschen zusammen. Die Löhne begannen zu steigen, die Menschen konnten aber ihr Geld zunächst gar nicht ausgeben, weil die gesamte Wirtschaft im Dienste des Krieges stand.
Nach Kriegsende kam dazu, was heute offenbar unmöglich geworden ist: eine vernünftige Politik. Dank der berühmten «G.I. Bill» – ein Gesetz, das es den heimkehrenden Soldaten ermöglichte, auf Staatskosten zu studieren – hatten die USA bald gut ausgebildete Arbeitskräfte. Der Staat investierte massiv in Infrastruktur und Bildung. Die Wirtschaft konnte ihre neu gewonnene Effizienz behalten und die Menschen konnten endlich ihr Geld für Konsumgüter ausgeben.
In der Summe entstanden so ein prosperierender Mittelstand und eine Wirtschaft, deren Produktivität ein bislang nicht für möglich gehaltenes Niveau erreicht hatte. Gordon betont, dass das Leben der Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht viel anders war als heute, während die Zustände 1870 noch mittelalterlich waren.
Das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg liess sich nicht wiederholen. In den 80er-Jahren nahm das Wachstum der Produktivität kontinuierlich ab, das «Zeitalter der schrumpfenden Erwartungen», wie es Paul Krugman einst nannte, hatte begonnen.
Zwar führten Internet und Dotcom-Boom in den 90er-Jahren zu einem kurzen Wiedererwachen des Produktivitätswachstums. Seither herrscht jedoch tote Hose:
Während uns die Technofraktion das Paradies verspricht, schaut Gordon daher düster in die Zukunft. Er prophezeit eine längere Phase der wirtschaftlichen Stagnation und hält nichts von den Technovisionen:
Gordon legt mit seinem Buch den Finger auf den wunden Punkt der Techno-Enthusiasten: Das stagnierende Wachstum der Produktivität. Künstliche Intelligenz und Roboter müssten dieses Wachstum explodieren lassen, doch genau das geschieht nicht. Der Nobelpreisträger und Wachstumsspezialist Robert Solow hatte schon in den 90er-Jahren gespottet, die Computer würden überall Spuren hinterlassen, nur nicht in den Statistiken des Produktivitätswachstums.
Das scheint sich zu wiederholen. Zentralbanker und Ökonomen werden nicht müde, über die Stagnation der Produktivität und damit über den Stillstand des Wohlstandszuwachs zu klagen. Gordon seinerseits sieht die Gefahr weder bei Robotern noch Software:
Gordon ist ein anerkannter Fachmann, sein Buch ist untermauert mit unbestreitbaren Fakten, seine Schlussfolgerungen sind schlüssig und einleuchtend – und trotzdem liegt er falsch. Weshalb? Er denkt in der analogen Welt. Für ihn sind Software und Roboter grundsätzlich das gleiche wie Jets und Waschmaschinen: Mehr oder weniger nützliche Dinge, die Menschen herstellen. In dieser Logik hat er Recht. Diese Erfindungen waren einmalig und lassen sich nicht wiederholen.
Doch wir leben zunehmend in einer digitalen Welt. In dieser Welt geht es nicht darum, dass wir einfach mehr Dinge haben, die Digitalisierung addiert nicht, sie revolutioniert. Will heissen: Die Digitalisierung führt dazu, dass die Grenzkosten gegen Null sinken. Das ist alles andere als trivial. Es hat die gleiche Wirkung, wie wenn man etwas durch Null dividieren will: Das System spielt verrückt.
Okay, das war ein bisschen theoretisch. Versuchen wir es daher mit einem praktischen Beispiel. Noch vor kurzem hättet ihr diesen Artikel in Print gelesen, in einer Tageszeitung beispielsweise oder in einem Magazin. Das hätte Grenzkosten zur Folge gehabt, Druck und Vertrieb. Der Verleger hätte deshalb versucht, die Grenzkosten zu optimieren, und falls die Grenzkosten den Ertrag überstiegen hätten, hätte er die Produktion eingestellt.
Bei watson sind wir zumindest teilweise bereits im digitalen Zeitalter. Alles ist anders. Ob ein einziger User diesen Artikel liest – ich hoffe, es sind ein paar mehr – oder Millionen, spielt betriebswirtschaftlich gesehen keine Rolle. Nichts muss gedruckt oder verteilt werden, all dies erledigt das Internet gratis. Ein Teil der traditionellen Grenzkosten ist gegen Null gesunken – und das System spielt deshalb ein bisschen verrückt.
In der alten Printwelt herrschten aus heutiger Sicht gesehen idyllische Zustände. Dank hohen Eintrittsbarrieren – Druckerei und Vertrieb sind sehr teuer – konnten die Verleger saftige Monopolgewinne einstreichen und den Journalisten gute Arbeitsplätze anbieten.
In der digitalen Welt fallen die Eintrittsbarrieren weg. Jeder kann mitmachen, und einige tun es auch: Selbst mittlere Unternehmen verfügen mittlerweile über ein Onlineportal mit journalistischem Inhalt. Grossunternehmen haben bereits einen eigenen Newsroom, während Freelancer sich als Blogger versuchen. Das hat Folgen. Die Renditen der traditionellen Tageszeitungen sind auf einen Bruchteil der Glanzzeiten geschrumpft. Die Journalisten bangen um ihren Arbeitsplatz, die Verleger um ihre Eigenkapitalrendite. Die Branche ist ratlos, ahnt jedoch, dass mit Sparrunden allein das Problem nicht zu lösen sein wird.
Die traditionelle Musikindustrie ist der Null-Grenzkosten-Ökonomie bereits zum Opfer gefallen. Selbst eine Million Klicks auf YouTube spült keinen Franken in die Kasse. Zum Glück ist die Musikindustrie in der Schweiz überschaubar. Anders die Banken. Auch dort beginnt Fintech, traditionelle Geschäftsfelder zu schwächen – und auch dort sinken die Erträge.
Josef Ackermann glaubte einst an eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent. Derzeit liegen diese Quoten bei der UBS im einstelligen Bereich, während man bei der CS froh ist, überhaupt noch Geld zu verdienen.
Ganz übel betroffen von der Null-Grenzkosten-Ökonomie ist die Energieindustrie. Weil Wind gratis bläst und die Sonne gratis scheint, müssen die traditionellen Kalkulationen über Bord geworfen werden. Die Folgen sind dramatisch: Die grossen Schweizer Energieunternehmen wollen ihre Atomkraftwerke neuerdings in eine Bad Bank auslagern und sie dem Bund übertragen. Einer der Grossen, Alpiq, bewegt sich am Rande des Konkurses, die übrigen haben ihre Investitionen auf ein absolutes Minimum zurückgeschraubt.
Kein Wunder also spricht man in der Energiebranche bereits von einer VUCA-Welt, wobei «V» für volatile (volatil), «U» für Uncertain (unsicher), «C» für Complex (komplex) und «A» für Ambiguous (zwiespältig) steht.
Die Null-Grenzkosten-Ökonomie bedroht nicht nur einzelne Branchen, sie bedroht das ganze System. Null-Grenzkosten bedeutet nämlich, dass es keinen Preis mehr gibt und ohne Preis kann eine Marktwirtschaft nicht funktionieren. Der amerikanische Politologe Jeremy Rifkin sieht deshalb bereits das Ende des Kapitalismus nahen.
Rifkin beschreibt in seinem Buch «Marginal Cost Society» die Dynamik in der digitalen Wirtschaft wie folgt: Der Wettbewerb wird härter, die Grenzkosten sinken, bis sie nahe bei Null sind.
Zurück zu Gordon. Er sehnt sich nach einer Marktwirtschaft, die wieder sozial ist, in der die Gewerkschaften stark und die Löhne anständig sind. Das ist erstens eine Illusion und zweitens egoistisch. Es ist zwar richtig, dass Strom und Verbrennungsmotor den Menschen ein anständiges und langes Leben ermöglicht haben, aber nur in den Industrieländern.
Weltweit gesehen gilt nach wie vor, dass mehr als 80 Prozent aller Menschen ein Leben führen, das «hässlich, brutal und kurz» ist. Und es ist auch undenkbar, dass wir je mit analogen Mitteln diesen Zustand werden ändern können, denn sollten Inder, Chinesen und Afrikaner je auch nur annähernd so viel Energie verbrauchen wie wir, dann würde dies den Ökokollaps des Planeten herbeiführen.
So bedrohlich die Digitalisierung der Wirtschaft kurzfristig auch sein mag, langfristig ist sie unsere einzige Chance, allen Bewohnern dieser Erde ein menschenwürdiges Leben zu verschaffen. Ob es uns passt oder nicht: Wir müssen die Herausforderung einer Null-Grenzkosten-Ökonomie akzeptieren.
(Gestaltung: Anna Rothenfluh)