Im Dezember 1917 wurde auf Geheiss von Wladimir Lenin die Tscheka gegründet, eine Geheimpolizei, die sehr rasch dadurch berühmt-berüchtigt wurde, dass sie alle Feinde der Bolschewisten mit unerbittlicher Grausamkeit verfolgte und umbrachte. Mit dem NKWD setzte Lenins Nachfolger Josef Stalin noch einen drauf. Die Schandtaten der Stalin-Schergen lassen sich mit Fug und Recht mit den Gräueltaten von Hitlers Waffen-SS vergleichen.
Nach dem Krieg wurde der russische Geheimdienst in KGB umbenannt. Im Vergleich zu den Vorgängern waren dessen Mitglieder geradezu zivilisiert. Bei uns wurde der KGB primär wegen seiner Spione im Kalten Krieg bekannt – und als Gegenspieler von James Bond. Ein gewisser Wladimir Putin war bekanntlich ebenfalls KGB-Agent, stationiert in Dresden in der damaligen DDR.
Heute gibt es gleich mehrere Geheimdienste in Russland: Der FSB ist zuständig für die innere Sicherheit, vergleichbar mit dem FBI in den USA. Der SVR spioniert im Ausland, vergleichbar mit der CIA, und der GRU ist der Geheimdienst des Militärs. An «Tschekisten», wie die Geheimdienst-Mitglieder heute noch oft genannt werden, fehlt es Putin somit beileibe nicht. Aber kann er ihnen noch vertrauen?
Eher nicht, so lautet die These, welche Andrei Soldatov und Irina Borogan in «Foreign Affairs» vertreten. Die beiden stellen fest:
Obwohl Prigoschins Operetten-Coup rasch niedergeschlagen wurde, ist es nach wie vor rätselhaft, wie mit dem Wagner-Chef umgesprungen wird. Zwar wird er im Staats-TV vorgeführt und lächerlich gemacht. «Er wird erniedrigt», stellt Tatiana Stanavaya vom Carnegie Russia Eurasia Center in der «Financial Times» fest. «Offenbar wurde entschieden, Prigoschin als Politiker fertigzumachen. Aber sie wissen immer noch nicht, wie sie ihn als Geschäftsmann behandeln sollen.»
Tatsächlich haben zwar Spezialeinheiten der Nationalgarde Prigoschins Villa in St.Petersburg gestürmt. Fotos der unsäglich geschmacklos eingerichteten Protz-Burg wurden veröffentlicht. Gleichzeitig soll der Wagner-Chef das beschlagnahmte Bargeld und die Goldbarren wieder zurückerstattet erhalten haben.
Unklar ist auch, ob sich Prigoschin derzeit in St.Petersburg oder in Belarus aufhält. Der Kreml gibt sich betont desinteressiert. Die Regierung habe «weder die Mittel noch ein Interesse daran, die Schritte von Prigoschin zu verfolgen», liess der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow ausrichten.
Alexander Lukaschenko widerspricht derweil der weit verbreiteten These, wonach Prigoschin um sein Leben fürchten müsse. «Wer glaubt, dass Putin so bösartig und rachsüchtig sei, dass Prigoschin schon bald getötet wird, der irrt. Es wird nicht passieren», erklärte der Präsident von Belarus am Donnerstag. Er hat den Deal zwischen dem Wagner-Führer und dem Kreml eingefädelt.
Wie ist die seltsame Reaktion des Kremls zu erklären? Gemäss Soldatov und Borogan liegt der Schlüssel zu diesem Rätsel bei den Geheimdiensten. Kurz vor seinem Marsch auf Moskau hat sich Prigoschin mit Yunus-bek Jewkurow, dem stellvertretenden Verteidigungsminister, und Wladimir Aleksejew, dem stellvertretenden Chef des GRUs, in Rostow getroffen.
Beide haben offenbar der These des Wagner-Führers zugestimmt, wonach die eigentliche Ursache für die bisher enttäuschenden Resultate in der Ukraine bei der militärischen Führung zu suchen sei. Prigoschin hatte deshalb immer wieder die Entlassung von Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Waleri Gerassimow, dem Chef des Generalstabes, gefordert. «Du kannst sie haben», soll Aleksejew gelacht haben.
Putin stecke nun in einem Dilemma, folgern Soldatov/Borogan. Nicht so sehr Prigoschins Operetten-Coup sei das Problem, sondern die Reaktion der Militärs und der Geheimdienste. «Jetzt muss er einen Weg finden, wie er mit dem Versagen der Aufklärung und der Sicherheit umgehen soll, ohne dass er dabei neue Verunsicherungen darüber auslöst, wie fest er noch im Sattel sitzt», so Soldatov/Borogan. «Anders als in früheren Krisen kann er sich jedoch möglicherweise nicht mehr auf seine Sicherheitsdienste verlassen.»
Putins Dilemma könnte auch erklären, weshalb die Geheimdienst-Chefs bisher nicht zur Rechenschaft gezogen worden sind, und dies, obwohl sie nicht nur präventiv versagt haben. Als Prigoschin seinen Marsch auf Moskau antrat, verschanzten sie sich in ihren Hauptquartieren und gingen auf Tauchstation.
Der seltsame Umgang mit Prigoschin, die seltsamen Äusserungen von Lukaschenko und die seltsame Milde gegenüber den Geheimdienst-Chefs: All dies spricht dafür, dass Putin kein Garant für Stabilität mehr ist. Oder wie es Abbas Galljamow, ein Analyst und ehemaliger Redenschreiber Putins, gegenüber der «Financial Times» formuliert: «Das System ist derzeit so schwach, dass selbst kleinste Erschütterungen fatale Folgen haben können.»
Ein Ritt hoch zu Ross mit naktem Oberkörper (und Kreuz-Ketteli) quer durch Moskau.
Die Außentemperaturen wären für den 70-Jährigen hierfür nun recht milde.
Muss schlimm stehen um den russischen Staat, wenn sie nicht mal die Mittel dazu haben, einen Mann überwachen zu lassen…