Wer bei Josef Stalin in Ungnade fiel, dessen Foto wurde postwendend aus den Annalen wegretuschiert. Der grausame Diktator wusste, was George Orwell in seinem Roman «1984» wie folgt formuliert hat: «Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft. Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.»
Donald Trump und die Grand Old Party (GOP) sind im Begriff, diese Erkenntnis für ihre Zwecke umzumünzen. Gestern hat der Ex-Präsident zum ersten Mal, seit er Washington verlassen musste, wieder das Kapitol besucht. Er tat dies nicht, um seine Rolle beim versuchten Umsturz am 6. Januar 2021 zu hinterfragen oder gar Selbstkritik zu üben. Ihm ging es vielmehr darum – ganz im Sinne von Stalin –, die Geschichte von 1/6 neu zu schreiben.
Deshalb zur Erinnerung: Mit dem legendären SMS «Es wird wild werden» hat Trump am 19. Dezember 2020 seine Anhänger dazu aufgerufen, am 6. Januar nach Washington zu pilgern und dafür zu demonstrieren, dass der Kongress nicht Joe Biden, sondern ihn als Präsidenten bestätigt. Zehntausende folgten diesem Aufruf. Trump forderte sie auf, mit ihm zum Kapitol zu marschieren. Um sich abzusichern, schmuggelte er noch das Adverb «friedlich» in seine Aufforderung.
In der Folge stürmte der Mob das Kapitol und wollte den Vize-Präsidenten Mike Pence aufhängen, weil dieser Trumps Befehl, Bidens Wahl nicht zu zertifizieren, nicht ausführen wollte. Auch die Parlamentarier mussten von den Sicherheitskräften in Sicherheit gebracht werden. Vor allem die Demokraten unter ihnen befanden sich in Todesgefahr. Fünf Menschen starben als Folge des Sturms auf das Kapitol.
Trump hätte dem Treiben sofort ein Ende bereiten könnten, liess die Meute jedoch mehr als drei Stunden lang wüten. Das war denn auch für die Republikaner ein Schock. Senats-Mehrheitsführer Mitch McConnell machte unmissverständlich Trump für den versuchten Umsturz verantwortlich. Sogar Wendehals und Speichellecker Lindsey Graham erklärte, er habe nun definitiv genug von Trump.
Die Empörung hielt jedoch nur kurze Zeit an. Danach pilgerten die führenden Republikaner im Gänsemarsch nach Mar-a-Lago, um Abbitte zu leisten und Trumps Ring zu küssen.
Ganz im Sinne von Orwell wurde danach versucht, Schritt für Schritt die Vergangenheit neu zu deuten. Zunächst setzte man die These in Umlauf, dass nicht etwa Trump-Anhänger das Kapitol gestürmt hätten, sondern verkleidete Antifa-Mitglieder. Danach verstieg sich Tucker Carlson, damals noch Fox-News-Star, zur These, wonach FBI-Agenten den Aufstand provoziert hätten.
Diese beiden Verschwörungstheorien verfingen nicht. Deshalb versuchte es wiederum Carlson mit einer weiteren: Die Kapitol-Stürmer hätten nichts Böses im Sinn gehabt und seien fast ausschliesslich friedliche Touristen gewesen. Die Justiz kam allerdings zu einem anderen Befund. Inzwischen sind mehr als tausend dieser «friedlichen Touristen» zu Gefängnisstrafen verurteilt worden, die Anführer der beiden Milizen Proud Boys und Oath Keepers bis zu 20 Jahren.
Auch Trump definiert seine Rolle neu. Als Cassidy Hutchinson, eine ehemalige Mitarbeiterin im Weissen Haus, anlässlich ihres legendären Auftritts vor dem Komitee zur Abklärung der Ereignisse vom 6. Januar aussagte, Trump habe versucht, die Fahrer seines Fahrzeugs zu zwingen, ihn zum Kapitol zu bringen, wurde diese Aussage vehement dementiert.
Heute bestätigt Trump diese Aussage nicht nur, er ist sogar stolz darauf. Gleichzeitig sind die Kapitol-Stürmer in seinen Augen nicht mehr verkleidete Antifa-Mitglieder, sondern wahlweise Patrioten oder Helden, die sich in Geiselhaft befinden, aus der er sie umgehend befreien will, sollte er wiedergewählt werden. Bei seinen Rallys lässt er deswegen regelmässig einen Nationalhymne singenden Gefangenenchor auftreten.
Der Besuch Trumps auf dem Kapitol zeigt, dass seine Geschichtsklitterung Erfolg hat. Der Reihe nach trabten gestern die Abgeordneten und die Senatoren der GOP beim Ex-Präsidenten vor, um erneut seinen Ring zu küssen. Nur zwei Senatorinnen, Susan Collins und Lisa Murkowski, blieben der Veranstaltung fern.
Wie peinlich der Kniefall vor dem Ex-Präsidenten war, zeigt etwa ein Zitat von McConnell. Obwohl er und seine Frau von Trump öfters massiv beleidigt und bedroht worden war, gab er sich handzahm. «Ich kann nichts Negatives berichten», erklärte er nach dem Treffen.
Selbst hoch dotierte Vertreter der Wirtschaft erwiesen dem Ex-Präsidenten die Ehre. Sie wurden dafür reichlich belohnt. Trump versprach ihnen, im Falle eines Wahlsieges nicht nur seine Steuergeschenke zu erneuern, sondern die Unternehmenssteuern noch weiter zu senken. Gleichzeitig verstieg er sich zur These, die Einkommenssteuern vollständig abzuschaffen und sie durch Strafzölle auf Importe zu ersetzen. Ein Ansinnen – nur so nebenbei – das jenseits aller ökonomischen Vernunft ist.
Trumps Auftritt hatte grosse Ähnlichkeit zum Gebaren eines Mafia-Bosses. Das ist kein Zufall. Der Ex-Präsident versteht sich immer mehr als Outlaw. In seinen Reden vergleicht er sich immer öfter mit dem legendären Mafioso Al Capone, und er bewundert Wladimir Putin, der Russland in einen Mafia-Staat verwandelt hat.
Das Erschreckende dabei: Er könnte damit Erfolg haben. Der «Economist» hat soeben sein Wahlbarometer für den kommenden November gestartet und kommt dabei zum Schluss: Trump hat etwa gleich grosse Chancen wie Barack Obama 2012.
Wir können uns glücklich schätzen, sie zu kennen oder gekannt zu haben.
Sie ist wohl nur ein kurzer aber schöner Klecks in der Geschichte.