Wieder Eskalation zwischen Thailand und Kambodscha: Darum streiten sich die Länder
Nach wochenlangen zunehmenden Spannungen und der Aussetzung des Waffenstillstandsabkommens durch Thailand Mitte November ist es an der thailändisch-kambodschanischen Grenze erneut zu Kampfhandlungen gekommen. Damit ist die von US-Präsident Donald Trump und dem malaysischen Ministerpräsident Anwar Ibrahim vermittelte Waffenruhe vorerst gescheitert. Diese war im Oktober unterzeichnet worden, nachdem die Spannungen zwischen Thailand und Kambodscha im Juli zu einem militärischen Schlagabtausch geführt hatten.
Im Zentrum des Konflikts steht ein dem Gott Shiva geweihter alter Hindu-Tempel, der schon seit Jahrzehnten Anlass zu Streitigkeiten zwischen den beiden südostasiatischen Ländern gibt.
Bedeutende Tempelanlage
Der Hindu-Tempel Prasat Preah Vihear (thailändisch Prasat Phra Wihan) wurde vom Volk der Khmer, der dominierenden Ethnie im heutigen Kambodscha, im 10. bis 12. Jahrhundert erbaut und sukzessive erweitert. Der Hindu-Tempel war eine der wichtigsten Tempelanlagen im Khmer-Königreich und trägt Merkmale verschiedener architektonischer Stile. Er steht auf einem felsigen Hügel, der nach Süden – auf der kambodschanischen Seite – steil in eine Ebene abfällt, während er von der thailändischen Seite im Norden über eine natürliche Rampe leicht zugänglich ist.
Die Khmer gaben die dem Hindu-Gott Shiva gewidmete Anlage vermutlich bereits im 12. Jahrhundert auf. Der Tempel zerfiel danach, doch die Steinverzierungen sind gut erhalten geblieben. 2008 nahm die UNESCO das Baudenkmal auf Antrag Kambodschas in ihre Weltkulturerbe-Liste auf, und zwar als kambodschanisches Monument – was den bereits seit den 1950er-Jahren schwelenden Konflikt wieder aufflammen liess.
Alte Rivalität und koloniales Erbe
Das Verhältnis der beiden Nachbarstaaten, die sich heute eine 800 Kilometer lange Grenze teilen, ist durch eine wechselvolle Geschichte belastet. Grosse Gebiete Thailands gehörten einst zum alten Khmer-Reich, das von etwa 800 bis 1430 existierte und die vorherrschende Macht in Südostasien war. Die vermutlich in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends eingewanderten Thai-Völker rebellierten im 13. Jahrhundert erfolgreich gegen die Herrschaft der Khmer. Der Khmer-Staat geriet nun seinerseits teilweise unter thailändische und auch vietnamesische Herrschaft.
Mit der Ankunft der europäischen Kolonialmächte in Südostasien änderte sich das Machtgefüge. Die heutige Grenze zwischen Thailand und Kambodscha ist ein Ergebnis der Kolonialzeit: Thailand, das bis 1939 noch Siam hiess, konnte zwar seine Unabhängigkeit bewahren, musste aber Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts umfangreiche Grenz- und Einflussgebiete an die Kolonialmächte Frankreich und Grossbritannien abtreten. Darunter fiel auch das von Siam abhängige Kambodscha, das Teil von Französisch-Indochina wurde. Das Gebiet um die Tempelanlage wurde 1904 zwar an Französisch Indochina abgetreten, blieb aber weiterhin umstritten; Thailand erhob stets Anspruch auf den Tempel.
Jahrzehntelanger Streit
Der Konflikt schwelte auch nach der Unabhängigkeit Kambodschas 1953 weiter. 1958 kam es beinahe zu einem Krieg zwischen den beiden Staaten, worauf Kambodscha den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag anrief. Dieser entschied 1962 zugunsten Kambodschas, was Thailand widerwillig akzeptierte. Allerdings betraf die Entscheidung lediglich die Tempelanlage selbst – über den Grenzverlauf im umliegenden Gebiet äusserte sich der Gerichtshof nicht, da der Antrag Kambodschas allein die Souveränität über die Tempelanlage selbst umfasst habe. Damit blieben 4,6 Quadratkilometer Land um den Tempel umstritten.
Die Aufnahme der Tempelanlage ins UNESCO-Weltkulturerbe führte 2008 wie erwähnt ebenfalls zu einer Krise. Thailand zog im Gebiet Truppen zusammen, worauf auch Kambodscha Militär an die Grenze schickte und zudem den UNO-Sicherheitsrat anrief. Es kam zu Gefechten, bei denen bis 2011 mehrere Soldaten ums Leben kamen. 2013 präzisierte der IGH sein Urteil von 1962 und erklärte, auch die Umgebung des Tempels gehöre vollständig zu Kambodscha; Thailand müsse seine Truppen aus dem Gebiet abziehen.
Danach entspannte sich die Lage, doch im Mai dieses Jahres kam es erneut zu Schusswechseln. Beide Seiten beschuldigten einander, die Eskalation verursacht zu haben. Kambodscha verhängte ein Importverbot für Lebensmittel sowie für Treibstoff und Gas aus Thailand. Ende Juni schloss Thailand die Grenzübergänge in sechs Provinzen. Darauf intensivierte sich das Säbelrasseln weiter und Ende Juli kam es wieder zu Gefechten. Zugleich rief Thailand seinen Botschafter aus Phnom Penh zurück und wies den kambodschanischen Botschafter aus.
Darauf hatte US-Präsident Trump den Druck auf die beiden Staaten erhöht: Er drohte damit, keine Handelsverträge mehr mit den beiden Staaten abzuschliessen, wenn sie die Kämpfe nicht beenden würden. Beide Länder stimmten während des Asean-Gipfels in der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur der Vereinbarung zu, die eine militärische Deeskalation, den Abzug schwerer Waffen aus dem Grenzgebiet und die Einrichtung eines Beobachterteams des südostasiatischen Staatenbundes Asean vorsah.
