Die EU-Staaten verhängen nach der erzwungenen Landung einer Passagiermaschine in Minsk neue Sanktionen gegen die frühere Sowjetrepublik Belarus. Wie ein Sprecher von EU-Ratspräsident Charles Michel am Montagabend nach Beratungen der Staats- und Regierungschefs in Brüssel mitteilte, sollen belarussische Fluggesellschaften künftig nicht mehr den Luftraum der EU nutzen dürfen und auch nicht mehr auf Flughäfen in der EU starten und landen dürfen. Zudem soll unter anderem die Liste mit Personen und Unternehmen erweitert werden, gegen die Vermögenssperren und EU-Einreiseverbote gelten.
Fluggesellschaften mit Sitz in der EU werden darüber hinaus aufgefordert, den Luftraum über Belarus zu meiden. «Der Europäische Rat verurteilt nachdrücklich die erzwungene Landung eines Ryanair-Fluges am 23. Mai 2021 in Minsk (Belarus) und die Inhaftierung des Journalisten Roman Protassewitsch und von Sofia Sapega durch die belarussischen Behörden», heisst es in einer Erklärung der Staats- und Regierungschefs. Der Blogger und seine Partnerin müssten umgehend freigelassen werden. Die Internationale Zivilluftfahrt-Organisation forderte der EU-Gifpfel auf, den «beispiellosen und nicht hinnehmbaren Vorfall» dringend zu untersuchen.
Die Intervention Belarus ist Thema innerhalb der Nato. «Die Verbündeten beraten sich über die erzwungene Landung des Ryanair-Flugzeugs durch Belarus, und die Botschafter werden morgen darüber diskutieren», hiess es am Montag aus der Nato-Zentrale.
Bereits am Sonntag hatte Generalsekretär Jens Stoltenberg auf Twitter von einem «schwerwiegenden und gefährlichen Vorfall» gesprochen, der internationale Untersuchungen erfordere.
Closely monitoring forcible landing in #Belarus of flight to Vilnius & reported detention of opposition figure Roman Protasevich. This is a serious & dangerous incident which requires international investigation. Belarus must ensure safe return of crew & all passengers.
— Jens Stoltenberg (@jensstoltenberg) May 23, 2021
Auch die Europäische Union erwägt verschiedene Strafmassnahmen gegen Belarus. EU-Ratschef Charles Michel hofft auf eine Entscheidung über neue Sanktionen gegen Belarus auf dem EU-Gipfel. «Was gestern passiert ist, ist ein internationaler Skandal», sagte der Belgier am Montag vor Beginn des zweitägigen Gipfels. Die Leben europäischer Zivilisten seien in Gefahr gewesen. Dies sei eine Bedrohung für die internationale Sicherheit und die zivile Luftfahrt. Deshalb werde der EU-Gipfel über Sanktionen beraten. «Wir bereiten verschiedene Optionen vor, verschiedene mögliche Massnahmen, und ich hoffe, dass wir darüber heute Abend Entscheidungen treffen können.»
Im Gespräch sind Strafmassnahmen gegen die Verantwortlichen des Vorfalls sowie ein Landeverbot für die belarussische Fluggesellschaft Belavia an allen EU-Flughäfen, wie es am Montag aus EU-Kreisen hiess. Auch war im Gespräch, den Transitverkehr zwischen der EU und Belarus auszusetzen. Zudem könnten alle Überflüge von EU-Airlines über Belarus ausgesetzt werden. Mehrere Fluggesellschaften kündigten bereits an, den belarussischen Luftraum zu meiden.
Die EU-Staats- und Regierungschefs könnten die politische Entscheidung darüber treffen. Beschlossen werden müssten Sanktionen dann vom EU-Ministerrat. Die EU hatte wegen der anhaltenden Unterdrückung der Demokratiebewegung in Belarus bereits im vergangenen Jahr mehrere Sanktionspakete gegen Unterstützer des Präsidenten Alexander Lukaschenko verabschiedet.
Der irische Aussenminister Simon Coveney forderte die EU zu einer «sehr deutlichen Antwort» auf. Österreichs Bundeskanzler Sebastian verlangte «klare Konsequenzen für Belarus». Ähnlich äusserte sich der deutsche Aussenminister Heiko Maas. Frankreich sprach sich für ein Überflugverbot für Belarus aus. Litauen verhängte dies bereits am Montag. Polen verlangte die Aussetzung aller Flugverbindungen zwischen EU-Ländern und Belarus.
Der belarussische EU-Botschafter wurde zum Gespräch in Brüssel einbestellt. Botschafter Alexander Michnewitsch sei am Montag übermittelt worden, dass die EU-Institutionen und die EU-Staaten das Handeln der belarussischen Behörden scharf verurteilten, teilte der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) mit. Das Gespräch führte demnach EAD-Generalsekretär Stefano Sannino im Auftrag des EU-Aussenbeauftragten Josep Borrell.
Die EU hatte wegen der anhaltenden Unterdrückung der Demokratiebewegung in Belarus bereits im vergangenen Jahr mehrere Sanktionspakete gegen Unterstützer des Präsidenten Alexander Lukaschenko verabschiedet. Unter den Betroffenen ist auch Lukaschenko selbst.
Belarus zeigte sich indes offen für eine internationale Untersuchung des Vorfalls. «Ich bin sicher, dass wir in dieser Angelegenheit in der Lage sind, volle Transparenz zu gewährleisten», sagte der Sprecher des Aussenministeriums, Anatoli Glas, in der Hauptstadt Minsk. Wenn nötig sei Belarus auch bereit, «Experten zu empfangen» und Informationen offenzulegen, um Unterstellungen zu vermeiden. Beobachter sehen darin den Versuch Minsks, das weitgehend isolierte Land international wieder ins Gespräch zu bringen.
Zugleich verteidigte der Sprecher das Vorgehen der Behörden in der Ex-Sowjetrepublik. Die Massnahmen hätten den internationalen Vorschriften in vollem Umfang entsprochen. Glas wies zudem Kritik aus der EU als «bewusste Politisierung» zurück. Es müsse alles in Ruhe analysiert und auf «die Schlussfolgerungen kompetenter Experten» gewartet werden. In der Mitteilung des Ministeriums ist keine Rede gewesen von der Festnahme Protassewitschs.
Am späten Montagabend erfolgte die Bestätigung der Festnahme dann doch noch. Die belarussischen Behörden teilten auf Telegram mit, man habe den Blogger verhaftet. Er befindet sich im Moment in Untersuchungshaft.
Russland hat eine internationale Untersuchung der erzwungenen Flugzeug-Landung im Nachbarland Belarus gefordert. «Es gibt internationale Luftfahrtvorschriften, und es sind die internationalen Luftfahrtbehörden, die hier die Einhaltung oder Nichteinhaltung dieser internationalen Standards bewerten sollten», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Montag in Moskau der Agentur Interfax zufolge. Er könne da nichts vorwegnehmen.
Peskow mahnte zugleich eine «nüchterne Bewertung» des Vorfalls an. Die einen forderten Sanktionen, die anderen erklärten, es sei alles in Übereinstimmung mit den internationalen Regeln verlaufen. «Wir möchten uns nicht an diesem Rennen beteiligen, jemanden zu verurteilen oder etwas zu unterstützen», meinte Peskow. Russland ist der engste Verbündete von Belarus.
Die Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Maria Sacharowa, schrieb bei Facebook, der Westen solle sich nicht so aufregen. 2013 sei auf Geheiss der USA auch in Österreich das Flugzeug des bolivianischen Präsidenten zur Landung gezwungen worden. Das Internet sei voll von Beispielen über gewaltsame Entführungen, erzwungene Landungen und illegale Festnahmen, «die sich die Hüter der Ordnung und Moral» im Westen geleistet hätten, meinte sie.
(aeg/sda/dpa)