In Brasilien haben Parteienüberdruss und Protestwähler dem ultrarechten Jair Bolsonaro zur Präsidentschaft verholfen. Die Brasilianer erhoffen sich vom Sieger ein Ende der Wirtschaftskrise, der Korruptionsskandale und der steigenden Gewaltkriminalität. Analysten hingegen warnen vor einer Polarisierung: Schon der Wahlkampf war der gewalttätigste seit langem; auch Bolsonaro wurde Opfer einer Messerattacke. Die Unterlegenen, die schon in den vergangenen Wochen wegen Drohungen nur diskret Kampagne für Haddad machen konnten, fürchten deshalb um die Menschenrechte und die Demokratie in Brasilien. Ihre Bedenken befeuerte Bolsonaro in einer etwas wirren Facebook-live-Botschaft.
Das Volk habe ein Recht auf Wahrheit, auch wenn die Medien nur Lügen über ihn verbreitet hätten. Brasilien habe die Nase voll von Kommunismus und Linksextremen, sagte er unmittelbar nach Bekanntgabe des Ergebnisses. Gleichzeitig versprach er, die Verfassung und die persönlichen Freiheiten zu respektieren. «Das verspreche ich vor Gott.» Kurze Zeit später las er dann in Rio de Janeiro vor seinem Wahlkampfteam eine etwas artikuliertere Siegesbotschaft vom Blatt ab. Darin versprach der ehemalige Hauptmann, Brasilien wieder zu einer grossen Nation zu machen. Ausserdem sicherte er den Unternehmen alle Freiheiten zu sowie den Respekt des Privateigentums und versprach, die Staatsbürokratie und das Haushaltsdefizit zu reduzieren.
Zu den ersten Gratulanten gehörten die konservativen lateinamerikanischen Staatschefs aus Argentinien, Honduras, Chile und Paraguay. Für sie bedeutet der Rechtsruck im grössten südamerikanischen Land eine Stärkung. Mit dem Sieg Bolsonaros geht für Lateinamerika endgültig die «progressive Dekade der rosaroten Welle» zu Ende, ertränkt in Wirtschaftskrise und Korruptionsskandalen, die zum Überdruss der Bevölkerung mit der politischen Elite führten.
Überraschend ist Bolsonaros Sieg dennoch, weil es in Brasilien bislang keine nennenswerte politische Rechte gab. Die Parteien des rechten Spektrums gaben sich wie die PSDB einen sozialdemokratischen Anstrich oder verzichteten wie die PMDB gleich auf jegliche ideologische Zuordnung und frönten dem Opportunismus. Im ungleichsten Land Lateinamerikas galt es bislang als Konsens, zumindest verbal Sozialpolitik zu betreiben.
Anders Bolsonaro. Ihm gelang es, die bislang unartikulierten und unterschätzten drei konservativen Strömungen der brasilianischen Gesellschaft zu verschmelzen in einem Konstrukt, das «BBB» genannt wird: Biblia (Wertkonservative Kirchgänger), Boi (Agrarindustrie) und Bala (Waffenlobby). Analysten wie die Historikerin Maud Chirio erklären den Wahlsieg eines Befürworters und Kollaborateurs der Militärdiktatur mit der fehlenden Aufarbeitung der Vergangenheit und dem geschickten Aufbau der Linken zu einem Sündenbock und Feindbild. In Brasilien gab es anders als in Chile und Argentinien keine Prozesse gegen die Schergen der Militärdiktatur. Bolsonaro repräsentiere, wie der historische Faschismus in Europa, den Wunsch nach einer Zäsur mit dem Jetzt-Zustand, der als verrottet empfunden wird, so Chirio.
Bolsonaro hat den Rückhalt der Streitkräfte und auch im Kongress mehr Macht als seine Vorgänger. Was er damit macht, ist noch unklar. Die einfache Bevölkerung erhofft sich eine Senkung der Gewaltkriminalität und einen Wirtschaftsaufschwung. Die Märkte und die Reichen hoffen auf Steuererleichterungen und weniger Auflagen für ihre Geschäfte. Offenbar angetan von Bolsonaros neoliberalem, designierten Wirtschaftsminister Paulo Guedes, kletterte die Börse schon vor der Stichwahl in die Höhe und der Real erstarkte.
Er verstehe nichts von Wirtschaft, das überlasse er den Fachleuten, hat Bolsonaro immer wieder betont. Doch im Wirtschaftskabinett drohen Spannungen: Bolsonaro selbst gilt wie in Militärkreisen schicklich als klassischer Nationalist und drohte einmal, den damaligen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso wegen seiner Privatisierungen «zu erschiessen». Linke Kreise fürchten die Kriminalisierung sozialer Proteste und eine neue Gewaltspirale im Stile der Philippinen, weil Bolsonaro sowohl aussergerichtliche Exekutionen als auch die Bewaffnung der Bevölkerung befürwortet. (aargauerzeitung.ch)