Boris Johnson macht Ferien. Mit seiner schwangeren Ehefrau Carrie und Sohn Wilfred erholt er sich laut britischen Medien in der Luxusvilla seines Umweltministers Zac Goldsmith in Marbella. Das sorgt in der Heimat für Stirnrunzeln, weil unklar ist, ob der Premierminister die Reise selbst bezahlt. Sein Sprecher wollte sich nicht dazu äussern.
Die Abwesenheit des Regierungschefs wird nicht nur deswegen kritisiert. Derzeit häufen sich im Königreich die Turbulenzen. Ein am Dienstag veröffentlichter Untersuchungsbericht des Unterhauses stellt der Regierung Johnson und ihren wissenschaftlichen Beratern für das Management zu Beginn der Covid-Pandemie im Frühjahr 2020 ein miserables Zeugnis aus.
Tausende Menschen seien gestorben, weil die Regierung zögerlich gehandelt und lange auf eine natürliche Herdenimmunität gesetzt habe, heisst es im Bericht, der von Abgeordneten aller Parteien, auch von Boris Johnsons Tories, abgesegnet wurde. Darin ist die Rede vom «grössten Versagen im Gesundheitswesen in der Geschichte des Vereinigten Königreichs».
Damit nicht genug. Auch der Brexit sorgt gerade für wieder für Radau.
Der was bitte?
Eigentlich dachte man, der britische Austritt aus der Europäischen Union sei Anfang Jahr endgültig vollzogen worden. Doch der Brexit wird zu einem shakespeareschen Drama. Verantwortlich ist das in grosser Eile ausgehandelte Freihandelsabkommen. Es sorgt nicht nur für Friktionen im Grenzverkehr, sondern auch für Knatsch um Nordirland.
Aber der Reihe nach.
Ein zentraler Knackpunkt beim Brexit war und ist die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland. Seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 gilt es als unerlässlich, dass es dort keine Kontrollen geben darf, um den Frieden im Norden zu sichern. Mit dem britischen EU-Austritt aber wäre faktisch eine Zollgrenze zum EU-Mitglied Irland entstanden.
Als Ausweg wurde in den Austrittsverhandlungen das sogenannte Nordirland-Protokoll beschlossen. Es sieht vor, dass die britische Provinz faktisch im EU-Binnenmarkt verbleibt. Dadurch aber entstand die gefürchtete Zollgrenze in der Irischen See zwischen Nordirland und Grossbritannien (der Begriff umfasst streng genommen nur die Hauptinsel).
Als Folge davon waren beliebte britische Produkte in Nordirland nicht mehr erhältlich, weil die Hersteller die Zollformalitäten scheuten. Empört waren auch die stramm royalistischen Unionisten, sie fühlten sich vom Rest des Königreichs abgekoppelt. Die Regierung in London konnte den Unmut nicht ignorieren und warf nun der EU den Fehdehandschuh hin.
Der britische EU-Minister und Brexit-Chefunterhändler David Frost forderte am Dienstag in einer Rede in Lissabon fundamentale Änderungen am Nordirland-Protokoll. Brüssel ist offenbar bereit, den Briten entgegenzukommen. Produkte, die nur für Nordirland bestimmt sind, sollen von den Zollkontrollen befreit werden, darunter Lebensmittel und Medikamente.
Das ist für einzelne EU-Länder wie Frankreich schon zu viel, für Frost aber nicht genug. Er forderte am Dienstag, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Nordirland keine Rolle mehr spielen darf. Das erinnert an den Streit um das gescheiterte Rahmenabkommen mit der Schweiz und ist für die Europäische Union eine «rote Linie», die nicht verhandelbar ist.
«Die Rolle des EuGH zu streichen würde letztlich bedeuten, Nordirland vom europäischen Binnenmarkt abzuschneiden», sagte ein Sprecher der EU-Kommission in Brüssel. Für die EU geht es ums Prinzip. Sie will verhindern, dass Produkte durch die «Hintertüre» auf den europäischen Markt gelangen, die nicht den EU-Standards entsprechen.
1. I prefer not to do negotiations by twitter, but since @simoncoveney has begun the process...
— David Frost (@DavidGHFrost) October 9, 2021
...the issue of governance & the CJEU is not new. We set out our concerns three months ago in our 21 July Command Paper.
The problem is that too few people seem to have listened. https://t.co/Y7DDdgu0pC
In letzter Konsequenz müssten wohl jene Waren- und Zollkontrollen an der irischen Grenze eingeführt werden, die niemand will. Die sture Haltung der Briten zum EuGH sorgt denn auch im Süden der Insel für Ärger. Der irische Aussenminister Simon Coveney und David Frost lieferten sich am Wochenende auf Twitter ein heftiges Wortgefecht.
Die Briten sind offenbar bereit, das Nordirland-Protokoll ausser Kraft zu setzen. Die EU könnte im Gegenzug Strafzölle verhängen. «Die EU muss notfalls einen Handelskrieg gegen Grossbritannien führen», forderte das deutsche «Handelsblatt». Das Unverständnis über die Briten ist auf dem Kontinent gross, denn David Frost persönlich hatte das Protokoll ausgehandelt.
Frost verlange von der EU, das Chaos aufzuräumen, das er selbst verursacht habe, kommentierte der «Independent» maliziös. Die Zeichen stehen auf Sturm, doch bis zum Klimagipfel in Glasgow im November dürften beide Seiten den Ball flach halten. Denn nicht nur in Nordirland leidet das Königreich derzeit unter den Nachwehen des Brexit.
Die Staus vor britischen Tankstellen sorgten weltweit für Schlagzeilen. Nicht das Benzin fehlt, sondern die Lastwagenfahrer, die es ausliefern sollen. Über fehlendes Personal klagen auch Farmer und Fleischverarbeiter. Deshalb droht an Weihnachten ein Mangel an Truthähnen, auch müssen Schweine notgeschlachtet und entsorgt werden.
Seit dem Brexit können Trucker, Landarbeiter und Metzger vorab aus Osteuropa unter dem verschärften Einwanderungsregime nicht mehr problemlos in Grossbritannien arbeiten. Auch die Energiekrise sorgt für Unmut. Wegen geringen Speicherkapazitäten ist das Königreich besonders stark vom globalen Anstieg des Gaspreises betroffen.
Die britische Wirtschaft reagiert zunehmend erbost auf diese Probleme – auch die Autoindustrie, die wichtigste Exportbranche des Landes, die hauptsächlich in die EU liefert. Und was macht Boris Johnson? Vor seinen Spanien-Ferien hatte er letzte Woche einen triumphalen Auftritt am Tory-Parteitag in Manchester, an dem er die Krise weg witzelte.
In den Umfragen schadet sie dem Dauer-Optimisten bislang nicht, auch weil die Labour-Opposition wieder einmal mit sich selbst beschäftigt ist. Das könnte sich ändern, wenn es ausgerechnet vor Weihnachten zu einer Eskalation kommen sollte. Schon letztes Jahr erlebten viele Menschen im Königreich wegen Corona ein sehr trauriges Fest.
Die letzten 2-3 Jahre haben sehr schön aufgezeigt, dass die rechtspopulistischen Staatschefs völlig olanlos und überfordert sind, wenn sie anstatt zu hetzen und poltern auch mal etwas liefern müssten...