Überfordert, machtlos, verängstigt: Das Unterhaus in London. Bild: AP/UK Parliament
Ein anonymes Labour-Mitglied hat ein Brexit-«Tagebuch» verfasst. Es ist ein erschütterndes Dokument eines verwirrten und hilflosen Parlaments und einer verbunkerten Premierministerin, die aus dem Tag heraus regiert.
Im zunehmend traumatischen Brexit-Prozess ist einmal mehr das britische Parlament am Zug. Es stimmt am Mittwochabend über eine Reihe von nicht bindenden Anträgen ab. Zur Debatte stehen etwa eine zweite Volksabstimmung oder eine Zollunion mit der EU. Beobachter zweifeln, dass danach Klarheit herrschen und einer der Anträge überhaupt eine Mehrheit erreichen wird.
Was vor bald drei Jahren mit einer simplen Abstimmung über den Austritt oder Verbleib in der Europäischen Union begann, hat zu einer heillosen Überforderung der britischen Politik geführt, die in letzter Konsequenz die Demokratie beschädigt. Dies zeigt das «geheime Tagebuch» eines anonymen Labour-Mitglieds, das die Londoner «Times» am Dienstag veröffentlicht hat.
Um ein Tagebuch im eigentlichen Sinne handelt es sich nicht. Der oder die Abgeordnete – das von der «Times» verwendete Icon deutet auf einen Mann hin – schildert vielmehr, wie «beschämt, erniedrigt und enorm, ja überwältigend frustriert» er oder sie sich in diesem Brexit-Irrsinn fühle.
Der Labour-Anonymous hat für die EU gestimmt, vertritt aber einen Wahlkreis, der klar für den Austritt war. Das trifft auf nicht wenige in seiner Fraktion zu. Um seinen Wahlkreis kümmern kann er sich derzeit nicht, denn fast jede Woche müsse er in Westminster präsent sein, ohne zu wissen, was genau ablaufe. So ergehe es nicht nur den Labour-Leuten, sondern auch den meisten Tories.
Er habe mit ranghohen Tory-Kollegen gesprochen in der Hoffnung, dass sie ihm versichern würden, Theresa May sei eine «fantastische Pokerspielerin», die sich mit brillanten Köpfen berate und das Land mit sicherer Hand führe. Zurückgekommen sei nichts dergleichen.
Die Lähmung bei den Konservativen wäre ein Chance für Labour, als starke Opposition die Initiative zu ergreifen. Doch das geschehe nicht, seine Partei sei genauso zerrissen, schreibt der Anonymous. Parteichef Jeremy Corbyn sei vollkommen ambivalent und versuche, es allen recht zu machen. Was wiederum den Tories gefällt, wie eine Aussage aus ihren Reihen zeigt:
Wirklich schlimm aber ist für die anonyme Labour-Stimme das Gefühl von «Finsternis, Machtlosigkeit und Furcht». Man wisse, dass man etwas beitragen könnte und würde dafür bis zum Umfallen arbeiten. Stattdessen müsse man ständig befürchten, dass wieder etwas schief laufe. Die «erschreckende Wahrheit» sei, dass die demokratischen Strukturen auf Sand gebaut seien.
Das anonyme Dokument ist vielleicht eine Art «Racheakt» an Theresa May, die letzte Woche dem Unterhaus die Schuld an der Brexit-Blockade in die Schuhe geschoben hat. Im Endeffekt ist es ebenso eine Bankrotterklärung der gesamten britischen Politik wie die Multipack-Abstimmung vom Mittwoch.