Ein kurzer und intensiver Wahlkampf geht in Deutschland auf die Zielgerade. Am Sonntag findet die durch das Scheitern der Ampel-Regierung vorgezogene Bundestagswahl statt. Die letzten Tage waren durch einen Fernseh-Marathon geprägt. Fast täglich fand eine Debatte statt, mit Wählerinnen und Wählern, als Duell und mit den vier grossen Parteien.
Das «Quadrell» auf RTL und n-tv am letzten Sonntag war wohl der Höhepunkt in diesem Reigen. Die «Schlussrunde» am Donnerstag auf ARD und ZDF mit nicht weniger als acht Parteien konnte man sich hingegen sparen. Olaf Scholz und Friedrich Merz schwänzten sie, der CDU-Chef nimmt auch nicht am «Bürger-Speed-Dating» am Samstag auf Sat.1/Pro7 teil.
Genannt werden «terminliche Gründe», doch vermutlich will Merz nichts riskieren. Der Winterwahlkampf war strapaziös genug. Er fand in einer Zeit grosser Verunsicherung statt. Deutschland ist vom Erfolgsweg abgekommen. Eine vernachlässigte, marode Infrastruktur, das gefährdete Wirtschaftsmodell und das Reizthema Migration belasten die Menschen.
Hinzu kommt die konfrontative Politik von US-Präsident Donald Trump, der mit Zöllen droht und mit Wladimir Putin anbandelt. Seine «Vollstrecker» J.D. Vance und Elon Musk machen kein Geheimnis aus ihrer Schwäche für die rechtsradikale AfD. Umso mehr überrascht, dass sich die Umfragewerte der Parteien seit dem Ampel-Knall kaum bewegen.
Im neusten ZDF-Politbarometer vom Donnerstag rutschte die Union aus CDU und CSU unter die 30-Prozent-Marke. Das kann ein Alarmsignal sein und muss wegen der statistischen Fehlermarge trotzdem wenig bedeuten. Der Wahlsieg wird ihr nicht zu nehmen sein, doch bei der Frage, mit wem sie regieren soll, könnte es kompliziert werden.
Mit der AfD als klarer Nummer zwei will niemand koalieren. Auch Friedrich Merz schliesst dies trotz seines Tabubruchs in der Asylpolitik im Bundestag kategorisch aus. Der Knackpunkt ist, ob es die «Wackelparteien» BSW, FDP und Linke ins Parlament schaffen. Je nachdem wäre erneut eine Dreier-Regierung notwendig, die eigentlich niemand mehr will.
Erschwerend kommt hinzu, dass 27 Prozent der Befragten im Politbarometer nicht sicher sind, wen und ob sie wählen sollen. Gleichzeitig deutet sich aufgrund der Briefstimmen eine hohe Beteiligung an. Viele Deutsche mögen von der Politik enttäuscht sein, aber von einer Politikverdrossenheit kann keine Rede sein. Dafür steht zu viel auf dem Spiel.
Der 69-jährige CDU-Vorsitzende Friedrich Merz steht kurz vor dem Ziel seines Lebenstraums, deutscher Bundeskanzler zu werden. Es hilft ihm, dass er sich während der langen Ära Merkel um seine lukrativen Wirtschaftsmandate gekümmert hat und zuletzt in der Opposition war. Ihn kann man für die Versäumnisse der letzten Jahre kaum verantwortlich machen.
Ein Problem für Merz könnte es geben, wenn das Ergebnis der Union mit einer 2 beginnen sollte. Dagegen spricht, dass Merz bei der Kanzlerfrage unter den vier grossen Parteien die klare Nummer eins ist, auch wenn die 32 Prozent im ZDF-Politbarometer alles andere als berauschend sind. Und dass CDU/CSU die höchste Wirtschaftskompetenz attestiert wird.
Das Thema Migration ist mit den Anschlägen in Magdeburg, Aschaffenburg und München ins Zentrum der Debatte gerückt. Dennoch schafft es die Alternative für Deutschland (AfD) kaum über die 20-Prozent-Marke. Das ist doppelt so viel wie bei der letzten Wahl, doch es könnte auch bedeuten, dass sie ihr Potenzial vorerst ausgereizt hat.
Das mag auch an Alice Weidel liegen, die in der Kanzlerfrage das Schlusslicht bildet, noch hinter dem ungeliebten Olaf Scholz. Sie überzeugt die Deutschen nicht und sorgt immer wieder für Kontroversen, nicht nur wegen ihres Schweizer Wohnsitzes. Dennoch spricht alles dafür, dass Weidel im nächsten Bundestag zur Oppositionsführerin werden wird.
2021 gelang es den Sozialdemokraten, das Feld von hinten aufzurollen. Nun wollten sie diesen Coup wiederholen, doch das Wunder blieb aus. Das liegt nicht zuletzt an Olaf Scholz, dem unpopulärsten Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik. Die SPD hätte ihn durch Boris Pistorius ersetzen können, der zuletzt mit starken Auftritten überzeugte.
Scholz aber weigerte sich, Platz zu machen, mit der ihm eigenen Mischung aus Selbstbewusstsein und Sturheit. Seine überwiegend gelungenen Debattenauftritte ändern nichts daran, dass seine politische Karriere am Sonntagabend ausklingen dürfte und er nur noch pro forma Bundeskanzler sein wird, bis die neue Regierung steht.
Die Grünen können dankbar sein, dass sie über eine stabile Stammwählerschaft verfügen. Ausserhalb dieses urbanen und oft besserverdienenden Milieus tun sie sich schwer. In manchen Regionen, vor allem im Osten, sind sie regelrecht verhasst. CSU-Chef Markus Söder polemisiert bei jeder Gelegenheit gegen eine schwarz-grüne Regierung.
Kanzlerkandidat Robert Habeck kann von seinem Sympathiebonus jedenfalls nicht profitieren. Als Wirtschaftsminister hatte er eine Energiekrise verhindert und war zeitweise der beliebteste Politiker Deutschlands. Nun kreidet man ihm die schwierige Wirtschaftslage an. Die Grünen dürften kaum Teil der neuen Bundesregierung sein.
Wenn es einen «Shootingstar» im Wahlkampf gibt, dann ist es die schon tot geglaubte Linke. Ihr erneuter Einzug in den Bundestag scheint fast sicher, unabhängig von der «Aktion Silberlocke» mit den drei Oldies Dietmar Bartsch, Gregor Gysi und Bodo Ramelow. Sie kann rund 30’000 Neumitglieder verzeichnen und begeistert junge Wählerinnen und Wähler.
Das liegt an der scharfzüngigen und TikTok-versierten Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek. Und am Abgang von Sahra Wagenknecht. Sie war ein charismatisches Aushängeschild, aber auch eine Einzelkämpferin und Reizfigur. Ihre Abspaltung scheint die Linke nicht erledigt, sondern im Gegenteil befreit und regelrecht reanimiert zu haben.
Wagenknechts eigene, nicht nur dem Namen nach auf sie zugeschnittene Partei hat den gegenteiligen Trend erlebt. Im letzten Herbst legte sie mit den Erfolgen in den östlichen Bundesländern Brandenburg, Sachsen und Thüringen einen Blitzstart hin. Seither geht es in den landesweiten Umfragen nur noch abwärts, bis unter die Fünf-Prozent-Hürde.
Sahra Wagenknechts Mix aus Links- und Rechtspopulismus scheint nicht (mehr) zu verfangen. Beim Ukraine-Krieg wurde sie von Donald Trump überholt, bei der Migration von Friedrich Merz. Zuletzt versuchte es das BSW wieder mit sozialen Themen, doch es könnte sein, dass Wagenknechts schillernde Politkarriere am Sonntag vorerst zu Ende geht.
Den Liberalen droht ein Déjà-vu, das sie keinesfalls mehr erleben wollten. Nach der letzten Regierungsbeteiligung mit Angela Merkels Union flogen sie 2013 aus dem Bundestag. Jetzt könnte es erneut dazu kommen. In den Umfragen schaffte es die FDP kaum einmal über die Fünf-Prozent-Hürde, auch weil sie in der Ampel mit Rotgrün zwischen den Stühlen sass.
Beim Kernthema Wirtschaft steht ihnen der Wirtschaftsanwalt Friedrich Merz vor der Sonne. In seiner Verzweiflung hat FDP-Chef Christian Lindner ihn zuletzt scharf attackiert, weil Merz im Duell mit Olaf Scholz auf Welt TV eine Steuererhöhung nicht kategorisch ausschliessen wollte. 2013 hatte Lindner die FDP aus dem Elend befreit, in das sie zurückfallen könnte.
Abgerechnet aber wird am Sonntag frühestens um 18 Uhr. Je nach Resultat der kleineren Parteien könnte es dauern, bis klare Verhältnisse vorliegen. Derzeit sieht es nach einer schwarz-roten (sehr wahrscheinlich) oder schwarz-grünen (wenig wahrscheinlich) Regierung aus. Am Ende aber könnte sogar die FDP wieder Teil einer Koalition werden.
Man könnte sie glatt für Agenten Moskaus halten.