Christian Lindner war bester Laune, als er am Donnerstag in der Aula der Universität Zürich ans Rednerpult trat. «Dies ist meine erste dienstliche Auslandsreise seit Beginn der Pandemie», sagte der Vorsitzende der deutschen FDP zum Auftakt seines Referats, das er auf Einladung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung (SIAF) hielt.
Obwohl er mitten im Wahlkampf steckt, liess es sich Lindner nicht nehmen, «das strenge staatsfromme Deutschland zu verlassen, um in der Schweiz die Luft der Freiheit zu atmen». Der 42-jährige Wuppertaler konnte sich den Abstecher leisten, denn seine Partei befindet sich im Hinblick auf die Bundestagswahl am 26. September in einer komfortablen Lage.
«Gemäss den aktuellen Umfragen kann ohne die FDP nicht regiert werden», stellte Lindner in Zürich fest. Tatsächlich gibt es derzeit keine Mehrheit für eine Zweierkoalition. Selbst für Schwarz-Grün reicht es kaum, für Schwarz-Gelb – Lindners bevorzugte Variante – sowieso nicht. Die nächste Regierung kann wohl nur als Dreierbündnis gebildet werden.
Klammert man die AfD aus, mit der niemand koalieren will, gibt es nur eine realistische Allianz ohne Beteiligung der Liberalen: Rot-rot-grün (SPD, Linke und Grüne). Doch ob es für die absolute Mehrheit reichen würde, ist fraglich. Ausserdem gibt es Vorbehalte gegen die West-Linke, die teilweise sektiererische Züge trägt. So bleiben drei Konstellationen:
Eine Deutschland-Koalition (die eigentlich Belgien-Koalition heissen müsste, wie spitzfindige Gemüter meinen, weil die deutsche Flagge aus den Farben Schwarz-Rot-Gold bestehe) ist am wenigsten wahrscheinlich. Die Lust der Sozialdemokraten, schon wieder mit der Union zu regieren, ist sehr gering. Es könnte folglich auf Jamaika oder Ampel hinaus laufen.
Die Freien Demokraten hätten eine Schlüsselrolle. Christian Lindner ist seit Ende 2013 Parteichef. Genauso lange befindet sich die FDP in der Opposition. In der «guten alten Zeit» der Bonner Republik war sie fast permanent an der Regierung beteiligt, als Juniorpartner von CDU/CSU oder der SPD. Seit 1998 aber hat sie nur von 2009 bis 2013 mitregiert.
Nach der Wahl 2017 hatte sie die Chance, sich an einer Jamaika-Koalition zu beteiligen. Lange sah es gut aus, doch dann liess Lindner die Gespräche platzen, wofür er heftig kritisiert wurde. In Zürich rechtfertigte er sich: Angela Merkel habe mit den Grünen eine «Linksverschiebung der Koordinaten» geplant. «Dafür steht die FDP nicht zur Verfügung.»
Lindner kann sich eine Regierung eigentlich nur unter Führung von CDU/CSU vorstellen («unsere inhaltliche Nähe zur Union ist grösser als zu den anderen Parteien»). Er zeigte sich überzeugt, dass die Unionsparteien nach der Wahl die grösste Fraktion bilden werden, obwohl die SPD ihnen immer näher rückt, etwa im ARD-Deutschlandtrend vom Freitag.
Offensichtlich profitieren die Sozis vom «Höhenflug» ihres Kanzlerkandidaten und Finanzministers Olaf Scholz. Der FDP-Chef führte ihn mit spöttischem Unterton darauf zurück, dass es Scholz bislang gelinge, «Frau Esken und Herrn Kühnert zu verstecken». Also die stramm linke SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken und Ex-Juso-Chef Kevin Kühnert.
Über Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock sprach Lindner so gut wie nicht. Dafür äusserte er sich lobend über die «erfolgreich arbeitende» CDU-FDP-Regierung mit Armin Laschet in Nordrhein-Westfalen. Irritiert habe ihn jedoch, dass sich Unionskandidat Laschet in nur fünf Wochen von «Wir senken die Steuern» zu «Wir hoffen, die Steuern nicht erhöhen zu müssen» bewegt habe.
Das ist nicht nach dem Geschmack der Liberalen. Dennoch kann es für Christian Lindner eigentlich nur einen Bundeskanzler, Armin Laschet, geben. Zu einer Ampelkoalition mit SPD und Grünen hat er grosse Vorbehalte, aber kategorisch Nein sagt er nicht. Denn Lindner weiss: Er hat nach den Wahlen alle Koalitions-Trümpfe in der Hand.
Diese wird er ausspielen, in Form einer «Offensive für liberale Werte», wie er am Donnerstag in seinem halbstündigen, weitgehend frei gehaltenen Vortrag erklärte: «Wir müssen den Gedanken der Liberalität wieder leben.» Das gelte auch für die Europäische Union, die «ein Revitalisierungsprogramm» brauche. Lindner kritisierte «die falsche Fixierung auf China».
Man dürfe das transatlantische Verhältnis nicht in Frage stellen, mahnte er auch mit Blick auf das westliche Fiasko in Afghanistan. Christian Lindners Referat wirkte wie ein Bewerbungsschreiben als künftiger Aussenminister (er selber wäre lieber Finanzminister). In der Fragerunde streute er zudem einige Anekdoten ein.
So schilderte er ein Treffen mit John Kerry, dem früheren US-Aussenminister und heutigen Klimabeauftragen von Präsident Joe Biden. Er habe ihm vorgeschwärmt, wie die USA mit Windkraft und neuen, effizienten Rotoren die ganze Welt «dekarbonisieren» würden. Wenn sich Länder wie Indien das nicht leisten könnten, werde das US-Finanzsystem dabei helfen.
«Wir brauchen mehr Freude am Erfinden als am Verbieten», folgerte Lindner daraus. Sein geschliffener Auftritt liess einen Zuhörer in Zürich tagträumen, der FDP-Chef könne selber Bundeskanzler werden. Das ist unrealistisch, aber Christian Lindner dürfte im Wahlherbst die begehrteste «Braut» sein. Und einen entsprechend hohen Preis einfordern.
Laschet und Baerbock ziehen ihre Parteien runter, bei Scholz zieht ihn die Partei runter.