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China: Uigure verliert Verwandte bei Brand in Ürumqi

Der 27-jährige Uigure Abdulhafiz Maimaitimin hat Verwandte in einem Hochhausbrand in Ürümqi in Xinjiang in China verloren.
Abdulhafiz Maimaitimin lebt seit einem Jahr in der Schweiz. In China wurde das Leben für ihn als Uigure immer schwieriger. Bild: Watson

«Meine Verwandten mussten sterben, weil sie Uiguren sind» – so reagiert China

Bei einem Brand in einem Wohnhaus im nordchinesischen Ürümqi sind mindestens zehn Menschen ums Leben gekommen – darunter auch Verwandte von Abdulhafiz Maimaitimin. Die Frage, warum sie starben, führte in China zu Protesten.
02.12.2022, 13:4403.12.2022, 10:30
Elena Lynch
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«Es geht mir nicht gut, Entschuldigung», sagt Abdulhafiz Maimaitimin. Seine Tante und vier ihrer Kinder sind am Donnerstag bei einem Brand in einem Hochhaus in Ürümqi in der nordwestchinesischen Region Xinjiang ums Leben gekommen. Das erfuhr er über einen Anruf bei einem Nachbarn, nachdem er das Gebäude im Internet erkannt hatte.

Er schaudert, schluchzt und sagt: «Meine Tante war wie eine zweite Mutter für mich. Es bricht mir das Herz.»

Der 27-jährige Uigure Abdulhafiz Maimaitimin hat Verwandte in einem Hochhausbrand in Ürümqi in Xinjiang in China verloren.
Maimaitimin schaut sich ein Foto von seiner Tante und drei ihre Kinder (eins fehlt) an. Sie sind alle tot.Bild: Watson

Laut den lokalen Behörden sind beim Brand mindestens zehn Menschen ums Leben gekommen und neun verletzt worden. In den sozialen Medien ist mittlerweile von 44 Toten die Rede, doch diese Zahl ist nicht offiziell bestätigt.

Der Brand soll von einer Steckdosenleiste in einem Schlafzimmer im 15. Stock ausgegangen sein. Die Flammen und der Rauch stiegen in die oberen Stockwerke auf. Bewohnerinnen und Bewohner atmeten die giftige Gase ein – darunter auch die Verwandten von Maimaitimin. Sie starben in ihrer Wohnung im 19. Stock.

Keine Worte

Maimaitimin war zuletzt vor sechs Jahren dort. Kurz bevor er mit seiner Schwester und zwei Cousins China für immer verliess, übernachtete er bei seiner Tante in Ürümqi.

Jetzt sitzt er in einem Aufenthaltsraum in einem Asylheim in Regensdorf-Watt. Auch anwesend sind ein Freund und eine Vertreterin vom uigurischen Verein der Schweiz und dem sogenannten Weltkongress der Uiguren. Sie übersetzt das Gespräch mit watson. Für den Schmerz, den er fühlt, findet er im Deutschen noch keine Worte. Er ist erst seit einem Jahr in der Schweiz.

Der 27-jährige Uigure Abdulhafiz Maimaitimin hat Verwandte in einem Hochhausbrand in Ürümqi in Xinjiang in China verloren.
Maimaitimin sitzt im Aufenthaltsraum im Asylheim.Bild: Watson

Maimaitimin zeigt ein Video von seiner verstorbenen Tante: Sie liegt in einem gelben Leichensack mit schwarzem Reissverschluss. Nur der Kopf schaut raus. Die Augen sind zu, der Mund ist offen. Die Haut sieht aus wie Marmor.

Verschlossene Türen

Die Region Xinjiang steht seit mehr als 100 Tagen unter strengen Ausgangssperren, um das Coronavirus im Rahmen der chinesischen Null-Covid-Politik zu bekämpfen.

Maimaitimin zeigt Videos auf denen Menschen in Schutzanzügen Hauseingänge mit Metallvorkehrungen verriegeln. Die Echtheit der Videos lässt sich nicht überprüfen.

epa09995477 A man in protective gear locks the gate of a residential compound amid a new round of lockdowns, in Shanghai, China, 04 June 2022. Four days after the Shanghai lockdown was lifted, the cit ...
Wie auf den Videos von Maimaitimin, schliesst ein Mann im Schutzanzug ein Hauseingang in Shanghai ab.Bild: keystone

Um Mobilität zu begrenzen und zu kontrollieren, wird in Bürogebäuden und Einkaufszentren oft nur ein Ausgang offengehalten. Abgeriegelte Notausgänge in öffentlichen Gebäuden sind ein alltägliches Phänomen, heisst es in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung».

Auch in Wohngebäuden, die wegen Infektionen abgeriegelt werden, sind Türen oft verriegelt. Der Brandschutz unter diesen Bedingungen wird in der Bevölkerung emotional diskutiert.

Maimaitimin sagt: «Meine Familie konnte nicht ins Freie flüchten, weil die Wohnungstür von aussen verschlossen war.» Personen im Haus hätten ihm das bestätigt.

Am Freitag wurden in den sozialen Medien Fotos von Bolzenschneidern veröffentlicht, die sie sich die Leute gekauft hätten, um im Notfall Vorhängeschlösser aufbrechen zu können.

Es wurde spekuliert, dass die Bewohnerinnen und Bewohner eingesperrt waren oder nur wenige Stunden am Tag nach draussen durften.

«Verdrehte Tatsachen»

Die Behörden widersprechen dieser Darstellung. So sagt das chinesische Konsulat in der Schweiz in einer Stellungnahme zu watson, dass es nach offiziellen Informationen im betroffenen Viertel «weder sogenannte Verriegelung der Gebäude mit Draht noch Verschluss von Türen der Haushalte» gab. Die im Internet geposteten Fotos seien «böswillige Fehlinformationen» und «Verdrehungen der Tatsachen».

Das Viertel sei am 12. November von einem Hochrisikogebiet auf ein Niedrigrisikogebiet abgestuft worden. Und seit dem 20. November könnten die Bewohnerinnen und Bewohner ausserdem abwechselnd aus dem Haus und sich innerhalb des Viertels bewegen.

Laut dem chinesischen Konsulat in der Schweiz soll «eine umfassende Untersuchung» ergeben haben, dass einige Elektroleitungen in den Wohnungen nicht den Brandschutzbestimmungen entsprechend installiert worden seien. Zudem hätten «die engen Strassen» sowie «das chaotische Parken von Privatautos» den Löschfahrzeugen den schnellen Zugang erschwert.

Die Feuerwehr brauchte nach eigenen Angaben drei Stunden, um das Feuer zu löschen. In den sozialen Medien kursierten Videos, auf denen zu sehen war, wie der Wasserstrahl das Feuer wiederholt verfehlte, weil die Löschfahrzeuge zu weit weg waren.

In this image taken from video, firefighters spray water on a fire at a residential building in Urumqi in western China's Xinjiang Uyghur Autonomous Region, Thursday, Nov. 24, 2022. A fire in an  ...
Ausschnitt aus einem Video, das die Löscharbeiten dokumentierte. Der Wasserstrahl erreicht das Feuer nicht.Bild: keystone

Manche Nutzerinnen und Nutzer merkten an, dass die Feuerwehr wegen Corona-Absperrungen oder Autos nicht durchkamen, deren Besitzerinnen und Besitzer unter Quarantäne gestellt worden waren. Belege gibt es dafür nicht.

«Tritt zurück!»

Die Frage, warum Bewohnerinnen und Bewohner nicht vor dem Feuer ins Freie fliehen konnten, löste Proteste in China aus, die es so seit jenen auf dem Tiananmenplatz 1989 nicht mehr gegeben hat. In Shanghai schrien Protestierende: «Tritt zurück!» Und meinten damit den Parteichef Xi Jingping.

Die Menschen scheinen ihre Belastungsgrenzen erreicht zu haben – insbesondere in Xinjiang, wo sie seit mehr als 100 Tagen im Lockdown leben. Aber auch landesweit sind sie seit drei Jahren anhaltend Ausgangsperren ausgesetzt, die vielen von ihnen das Leben und den Lebensunterhalt gekostet haben.

epa10334246 Flowers are left by mourners during a vigil for the victims of China���s zero-COVID policy and the victims of the Urumqi fire in Hong Kong, China, 28 November 2022. Protests against China& ...
In Hong Kong wurden Blumen für die Opfer des Brandes in Ürümqi niedergelegt.Bild: keystone

Doch der Brand in Ürümqi liess sie auf die Strassen gehen, schliesslich hätte es auch sie treffen können.

Zäune, Checkpoints und Aufpasser

Diese Erkenntnis liess in Xinjiang sogar Han-Chinesen und Uiguren nebeneinanderstehen – zwei ethnische Volksgruppen, die sich als gesellschaftliche Mehrheit und Minderheit sonst gegenüberstehen.

In China leben rund zehn Millionen Uigurinnen und Uiguren. Auf dem Papier sind sie Chinesinnen und Chinesen, als muslimische Minderheit werden sie unterdrückt. Die meisten von ihnen leben in der Region Xinjiang, die bis 1949 eine eigenständige Republik war. Nach und nach haben die Behörden dort einen Überwachungsstaat aufgebaut, wie aus internationale Recherchen hervorgeht.

Maimaitamin sagt: «Es wurde zunehmend schwieriger, dort frei zu leben und frei zu wachsen.» In seiner Heimatstadt Hotan wurden die Uigurinnen und Uiguren zunehmend kontrolliert: Ihre Wohnungen wurden durchsucht, Viertel umzäunt und Checkpoints errichtet.

Die Verwandlung von Xinjiang in einen Überwachungsstaat ist auf Chen Quanguo zurückzuführen. Von 2016 bis 2021 war er Parteisekretär in Xinjiang. Davor war er in gleicher Funktion in Tibet. Auch in diesem autonomen Gebiet amtierte er mit harter Hand.

FILE - Chen Quanguo, Communist Party secretary of China's Xinjiang Uighur Autonomous Region, gestures while speaking during a group discussion meeting on the sidelines of China's National Pe ...
Chen Quanguo gestikuliert während einer Gruppendiskussion am Rande des Nationalen Volkskongresses 2019 in Peking.Bild: keystone

Laut dem «Spiegel» schickte er in Tibet zehntausende Genossinnen und Genossen aufs Land, wo sie bei tibetischen Familien und Mönchen schliefen und sie so infiltrierten. Auch in Xinjiang platzierte er chinesische «Kader» in Häusern von Uigurinnen und Uiguren, wo sie als Aufpasser leben und schlafen sollten.

Weitverbreitete Skepsis

So auch im Hochhaus in Ürümqi. In einem Chat, in dem Bewohnerinnen und Bewohner miteinander kommunizierten, schrieb ein Nachbar an die Kader: «In der Wohnung 1901 sind Kinder. Helft ihnen! Sie können nicht raus. Die Türen sind abgeriegelt.» Es war die Wohnung seiner Tante.

Maimaitamin ist überzeugt: Seine Tante und ihre Kinder wurden absichtlich nicht gerettet, weil sie uigurisch waren.

Der Anthropologe Adrian Zenz sagt auf Anfrage zu watson: «Solche Skepsis gegenüber der Regierung ist bei den Uigurinnen und Uiguren weit verbreitet. Es gibt dafür aber keine Anhaltspunkte. In diesen Wohnblöcken wohnen nicht nur Uigurinnen und Uiguren.»

Es sei aber wahrscheinlich, dass Uigurinnen und Uiguren stärkeren Überwachungsmassnahmen ausgesetzt seien und der Lockdown bei ihnen darum stärker ausfalle, was wiederum dazu führen könne, das die Feuerwehr nicht so schnell hinkomme.

Kein Kontakt

Zenz hat zahlreiche Studien publiziert, in denen er die Existenz der Umerziehungslager für ethnische Minderheiten in Xinjiang beweist.

Laut den internationalen Recherchen Xinjiang Police Files und China Cables wurden in Xinjiang seit 2017 mehr als eine Million Uigurinnen und Uiguren in Umerziehungslagern interniert.

Mehrere Länder stufen das Vorgehen der Behörden in Xinjiang als «Genozid» ein, darunter Kanada, die Niederlande und die USA. China selbst spricht von «kostenloser Berufsbildung».

Maimaitamin hatte 2017 das letzte Mal von seiner Tante gehört. Dann kamen ihr Mann, sein Onkel, ihr Bruder, sein Vater, und fünf andere Familienmitglieder in ein Umerziehungslager. Aus Angst vor Konsequenzen brachen sie den direkten Kontakt danach ab.

Auf WeChat – dem chinesischen Pendant zu Whatsapp – konnte er immerhin ihre Status sehen. Nun sind auch die verstummt.

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12 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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_kokolorix
02.12.2022 14:16registriert Januar 2015
Natürlich ist es schwierig, in solchen Situationen nachzuweisen, dass unterlassene Hilfeleistung absichtlich erfolgte.
Allerdings begünstigen korrupte, autokratische Staatsstrukturen solche Ereignisse. In so regierten Gebieten, gibt es oft mehr Opfer bei Katastrophen, weil die Verantwortlichen erst reagieren, wenn von oben Befehle kommen. Handelt man zu eigenständig, ist das Risiko gross, anschliessend dafür bestraft zu werden, vor allem, wenn man aus Versehen die falschen Opfer rettet ...
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Grobianismus
02.12.2022 14:54registriert Februar 2022
Die chinesische Regierung wird sich hinter verschlossenen Türen über jeden toten Uiguren freuen. Für das Regime ist ein Mensch nicht ein Leben, sondern ein Produktionsmittel oder eine Krankheit.
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