Bei neuen Protesten in Hongkong gegen das umstrittene Gesetz für Auslieferungen nach China ist es zu schweren Zusammenstössen mit der Polizei gekommen.
Wegen der Blockade des Parlaments musste am Mittwoch die geplante Debatte über das Gesetz verschoben werden.
Die Sicherheitskräfte sprachen offiziell von einem «Aufruhr». Polizisten gingen mit Tränengas, Pfefferspray, Wasserwerfern, Gummigeschossen und Schlagstöcken gegen Tausende Demonstranten vor, die den Legislativrat und umliegende Strassenzüge belagert hatten.
Demonstranten rissen Absperrgitter ein und bewarfen Polizisten mit Flaschen, Steinen und anderen Gegenständen. Es gab mindestens 22 Verletzte und eine unbekannte Zahl von Festnahmen.
Die Polizei hatte sich zuerst zurückgehalten, ging aber am Nachmittag Ortszeit gegen die Demonstranten vor, die gewaltsam den Legislativrat gestürmt hatten, wie es offiziell hiess. «Die Polizei musste ihren Einsatzz eskalieren, nachdem wiederholte Warnungen ignoriert worden waren.»
Hintergrund der Proteste ist ein geplantes Auslieferungsgesetz. Dieses würde es Hongkongs Behörden erlauben, von der chinesischen Justiz verdächtigte Personen an die kommunistische Volksrepublik auszuliefern.
Kritiker argumentieren aber, dass Chinas Justizsystem nicht unabhängig sei, nicht internationalen Standards entspreche und Andersdenkende politisch verfolge. Auch drohten Folter und Misshandlungen. Es wurde als «Werkzeug der Einschüchterung» in Hongkong beschrieben.
Aus Protest gegen das Gesetz hatten Hunderte Geschäfte geschlossen. Viele Hongkonger nahmen sich frei oder meldeten sich krank. Die Gewerkschaften hatten zu Streiks aufgerufen. Schon am Sonntag hatten nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen Hunderttausende bis zu einer Million Hongkonger gegen das Gesetz protestiert.
Danach war es in der Nacht bereits zu Ausschreitungen gekommen.
Ungeachtet des massiven Widerstandes unter den sieben Millionen Bewohnern der chinesischen Sonderverwaltungsregion will die umstrittene Regierungschefin Carrie Lam das Gesetz schnell von der Peking-treuen Mehrheit im nicht frei gewählten Legislativrat absegnen lassen.
In einem TV-Interview, das vor den Zusammenstössen aufgenommen wurde, verteidigte Regierungschef Lam ihre kompromisslose Linie mit dem Hinweis auf die Erziehung ihres Sohnes, dem sie als Mutter auch nicht jede Forderung erfüllen könne.
Wenn sie ihn verwöhne, werde er ihr in Zukunft vorwerfen, ihm nicht gezeigt zu haben, was richtig sei. Für den Vergleich erntete Lam in sozialen Medien heftige Kritik: Sie solle die Hongkonger nicht «bemuttern», sondern ihnen dienen.
Lam argumentiert, das Gesetz sei notwendig, um «Schlupflöcher» zu schliessen. Es würde Überstellungen mutmasslicher Straftäter an China und andere Länder ermöglichen, mit denen Hongkong bisher kein Auslieferungsabkommen hat.
Die Abstimmung sollte nach bisheriger Planung am Donnerstag nächster Woche erfolgen. Es muss sich zeigen, ob der Zeitplan durch die Verschiebung der Beratungen eingehalten werden kann.
Die frühere britische Kronkolonie wird seit der Rückgabe 1997 an China nach dem Grundsatz «ein Land, zwei Systeme» als eigenes Territorium autonom regiert.
Die Hongkonger geniessen grössere Freiheiten als die Menschen in der Volksrepublik, darunter das Recht auf freie Meinungsäusserung sowie Presse- und Versammlungsfreiheit. Seit den prodemokratischen Protesten 2014, die Teile der Stadt wochenlang lahmlegten, zieht Peking aber die Zügel an.
Der letzte britische Gouverneur Chris Patten kritisierte Peking: «Jeder, der denkt, dass wir in der Lage sein sollten, China in der Zukunft zu trauen, sollte berücksichtigen, wie sich China in Hongkong verhält.» In einem CNN-Interview fügte Patten hinzu: «Es macht Chinas Versprechen, dass es sich immer an die Regeln hält, zum Hohn.»
Die Demonstration am Sonntag war die grösste seit dem Protest vor drei Jahrzehnten gegen die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung in Peking am 4. Juni 1989. Die Ausschreitungen und Strassenblockaden am Mittwoch erinnerten an die «Regenschirm»-Bewegung für mehr Demokratie vor fünf Jahren, die ihren Namen von den Regenschirmen gegen die Sonne und das Pfefferspray der Polizisten erhalten hatte.
«2014 haben wir gesagt, es sei die letzte Runde, aber traurigerweise hat die Regierung nicht auf uns gehört. Aber wir wissen, dass es jetzt wirklich die letzte Chance für uns ist», sagte ein Student namens Adrian, der sich nicht traute, seinen Nachnamen zu nennen. «Wenn du siehst, dass sich diesmal eine Million Menschen erheben, dann weisst du, dass Hongkong wirklich in Gefahr ist.»
Auf der Strasse war etwa Musiklehrerin Heidi Law, welche sagte: «Wenn das Gesetz durchkommt, könnte unser Recht auf Meinungsfreiheit oder unser Schutz, nur die Wahrheit zu sagen, wegfallen.»
Das neue Gesetz könnte auch Ausländer betreffen, warnte der renommierte China-Experte und US-Jurist, Jerome Cohen. «Jeder, der über den Hongkonger Flughafen kommt, könnte festgenommen werden und nach China geschickt werden», schrieb er in seinem Blog. «Es sind nicht nur die Hongkonger, deren Schicksal hier auf dem Spiel steht.»
(cma/sda/afp/dpa)