Der Soldat schaut uns an, als wären wir von einem anderen Planeten. Er tritt aus seinem Grenzkabäuschen, den vergilbten Scheiben scheint er nicht zu trauen. Mit Google Translate versuche ich ihm zu erklären, dass wir Journalisten aus der Schweiz sind. Und kein Auto haben, weil keine Mietwagenfirma uns über die Grenze fahren lässt.
Sein kritischer Blick begutachtet abwechselnd die Presseausweise, unsere Pässe und dann wieder uns.
Zhurnalist? Kyyiv, Kharkiv, de?
«Beregszász», sage ich. «Berehowe», sagt die Roboterstimme der Übersetzungsapp. Er nickt und löchert mich mit weiteren Fragen auf Ukrainisch, die ich zwar nicht verstehe, aber mit Hand, Fuss und Technik versuche zu beantworten.
An den ukrainischen Grenzen, vor den Toren der EU, spielt sich derzeit eine Tragödie ab. Eine Million Geflüchtete in Polen, Hunderttausende in Ungarn. Volle Züge, riesige Staus, tagelange Wartezeiten. Traumatisierte Frauen und Kinder, getrennt von den Männern in der Familie. Diese müssen bleiben – und kämpfen.
Über eine Million aus der Ukraine auf der Flucht bedeutet aber auch, dass noch über 40 Millionen im Land sind. Arbeiten, zur Schule gehen, mehr oder weniger einen Alltag haben, weiterleben. Wie geht das?
Es gibt nur einen Weg, um das herauszufinden: selbst hingehen. Weder ich noch meine Kollegin Lea Bloch waren je in Kriegsgebieten. Wir haben keine Schutzwesten oder spezielles Training. Keine Sicherheitsberater. Aber es gibt noch Gebiete in der Ukraine, in denen es verhältnismässig sicher ist. Die Oblast Transkarpatien zum Beispiel. Einst Teil von Grossungarn, hinter dem Karpatenbogen, abgeschirmt vom Rest der Ukraine.
Die Vertreter der Mietwagenfirmen in Budapest lachen uns aus, als ich ihnen sage, dass wir in die Ukraine wollen. Auch die kleineren, in der Nähe der Grenze. Und so stehen wir nun ohne Transportmittel vor diesem vierschrötigen Soldaten, das Béret schief auf dem Kopf, die eisblauen Augen auf unsere Presseausweise gerichtet.
Fünf Minuten später sind wir drin.
Auf der anderen Seite wartet Kolos Balla auf uns. Er steht vor seinem alten Opel Corsa, neben ihm Polizeiautos und Zelte von Hilfsorganisationen. Er trägt eine den eiskalten Temperaturen nicht angemessene Jacke und lacht uns bereits von Weitem zu. Was auch daran liegen dürfte, dass wir die einzigen sind, die landeinwärts marschieren, während alle anderen darauf warten, das Land zu verlassen. Wir haben Kolos über einen ungarischen Kontakt gefunden. Er stammt aus Uschgorod, etwa eine Autostunde nordwestlich. Für 3000 Griwnas (ca. 100 Franken) hat er sich dazu bereit erklärt, uns einen Tag lang durch Transkarpatien zu fahren.
Kolos ist umgänglich, er erzählt von seinem Job in der IT-Branche und mit einer gehörigen Portion Galgenhumor vom Krieg. Meine Nervosität weicht schnell einer verwirrten Ungläubigkeit, als wir in Berehowe ankommen. Auf der Flaniermeile im Stadtzentrum tummeln sich allerlei Menschen, ein Strassenverkäufer verkauft Zuckerwatte, im Stadtpark spielen Kinder Fangen, während die Alten Zigarren rauchend auf den Parkbänken sitzen.
Wir gehen in ein Café, die Sonne scheint uns ins Gesicht, die Kirchenglocken läuten. Für einen Moment vergesse ich, dass ich in einem Land bin, das von (fast) allen Seiten angegriffen wird.
«Was sollen wir tun? Wir sitzen hier und verbringen die Zeit damit, uns Witze zu erzählen», sagen zwei ältere Herren. «Wenn die Situation schlimm wird, dann gehen wir einfach.»
Die beiden Männer stammen aus Berehowe. Sie gehören zu den 50 Prozent der Stadtbevölkerung, die noch nicht geflüchtet sind, wie Kolos sagt. Offizielle Zahlen dazu konnten wir nicht finden. Leerer geworden ist die Stadt auf jeden Fall nicht. Denn Berehowe ist selbst zu einem Anlaufpunkt für Geflüchtete geworden. Über 20'000 Menschen sollen hierhergekommen sein, um Schutz zu suchen. Oder auf den Grenzübertritt zu warten.
«Wir sind vor einer Woche aus Zaporizhzhia geflüchtet», sagt eine Frau. Ihre beiden Kinder springen um sie herum. Als die ersten Bomben fielen, gab es nur noch die Flucht. Doch sie wollen die Ukraine nicht verlassen. «Hier ist es noch ruhig, hier sind wir noch zu Hause», sagt sie.
Dmytro aus Bila-Zerkwa berichtet ähnliches. Er ist einen Tag nach Kriegsbeginn mit seiner Familie nach Berehowe geflüchtet. Frau und Kinder will er über die Grenze senden. Er selbst kann nicht gehen. Er wartet auf seinen Marschbefehl. «Meine Familie will nicht gehen, solange ich nicht einrücken muss», sagt er. Doch lange werde es nicht mehr dauern.
Alle Menschen, mit denen ich gesprochen habe, erzählen von Angst. Man sieht sie ihnen auf den ersten Blick nicht an, sie versuchen, so gut es geht weiterzuleben. Etwas anderes bleibt ihnen nicht übrig.
Viele finden Ablenkung und Hoffnung in karitativen Tätigkeiten. Kolos bringt uns zu einem Gymnasium, das zum Auffanglager umfunktioniert wurde. Die Lehrerinnen helfen Tag und Nacht, «sie schlafen nur zwei Stunden pro Nacht», erzählt Prorektorin Eva. Ihr Handy klingelt alle zwei Minuten. Sie koordiniert Spenden, schaut, dass alle Geflüchteten einen Platz zum Schlafen haben, organisiert Transporte über die Grenze und findet auch noch Zeit, um uns herumzuführen. Jedoch erst, als unsere Presseausweise vom Bürgermeister kontrolliert wurden. Solange es geht, soll Recht und Ordnung gewahrt werden.
Während die Welt draussen so normal scheint, werden wir in der Schule mit der brutalen Realität konfrontiert. Eva erzählt, dass am Samstag das Militär kam und das Gymnasium nach Männern durchsuchte, die im Wehrpflicht-tauglichen Alter waren. Sie bekamen einen Marschbefehl. Am Sonntag mussten sie einrücken.
Wir fahren weiter nach Mukachewo, einer Stadt mit über 85'000 Einwohnern. Ältere Männer laufen in den Strassen umher, ihr Militärtenue sitzt mehr schlecht als Recht. Man sieht ihnen an, dass sie erst kürzlich eingezogen wurden.
Wir machen Fotos und Videos, versuchen, mit einigen der Soldaten zu sprechen. Doch ein junges Paar stellt sich uns in den Weg. Sie fragen, was wir hier machen. Kolos erklärt ihnen, dass wir Journalisten sind. Misstrauisch wenden sie sich ab, wir laufen zurück zum Opel Corsa, fahren wenige Meter und werden von der Militärpolizei angehalten. Das junge Pärchen zeigt auf uns.
Wir müssen aussteigen. Ein Militärpolizist mit Dreitagebart und Raucheratem kontrolliert unsere Aufnahmen. Nichts Heikles dabei. Er entschuldigt sich überschwänglich in gebrochenem Englisch.
Bei Sonnenuntergang sind wir wieder zurück an der Grenze. Kolos fährt auf der Gegenfahrbahn an der riesigen Autokolonne vorbei. Sie bewegt sich kaum, die Menschen sind ausgestiegen, rauchen, holen sich Tee oder sprechen mit den Helfenden der christlichen NGO, die vor der Grenze warten.
Drei Checkpoints müssen passiert werden, bis man seinen Pass dem ungarischen Grenzpolizisten zeigen darf. Wieso, bleibt mir ein Rätsel. Die Schlange an Flüchtenden, die zu Fuss nach Ungarn wollen, steht jener an Autos in nichts nach. Hunderte Menschen warten mit Koffern, Taschen und Plastiksäcken auf den Grenzübertritt. Darauf, ihrem alten Leben zumindest für jetzt den Rücken zu kehren. Und oft auch ihren männlichen Familienangehörigen.
Vor uns steht eine junge Familie. Mutter, Vater, Sohn. Sie hat zwei Rucksäcke geschultert und zieht einen Rollkoffer, der Kleine hat eine Dinosauriertasche, der Vater seine Hände in der Hosentasche. Noch 20 Meter bis zum ersten Checkpoint. Sie fängt an zu weinen. 10 Meter, der Sohn tut es ihr gleich. Papa schaut auf den Boden. Ich auch.
Eine kleine Frau im Tarnanzug fragt nach den Pässen. Eine letzte Umarmung, ein letzter Blick zurück, dann sind Mutter und Sohn weg. Der Vater gesellt sich zu den anderen Männern, die hinter dem Stacheldrahtzaun ins Leere blicken.
Auch wir passieren die Grenze, zeigen insgesamt viermal unsere Pässe und beantworten viermal die gleichen Fragen. Zu unserem Auto zurücklaufen, das wir stehen lassen mussten, dürfen wir nicht, der Flüchtlingsshuttle muss uns die 500 Meter fahren.
Das Bild dieser Familie geht mir den ganzen Abend nicht mehr aus dem Kopf. Auch am nächsten Tag nicht. Wie ein kaputter Kassettenrekorder kommt es immer und immer wieder. Ich frage mich, wie dieser Sohn aufwachsen wird. Wie viele Kinder in den letzten zwei Wochen traumatisiert wurden. Und wie viele noch folgen werden. Ich frage mich nach dem Grund für all das Leid. Ich finde keinen. Zumindest keinen, der es rechtfertigen würde.
Die Frauen und Kinder gehen, die Väter müssen bleiben. Sie wissen nicht, ob sie es überleben werden.
Sterben in einem Krieg den man nicht will.