Horst Seehofer ist gekommen, der deutsche Innenminister. Christine Lambrecht auch, die Justizministerin. Volker Bouffier ist da, der Ministerpräsident Hessens. Sie alle und viele mehr sind in Hanau , um das Unbeschreibliche zu beschreiben, um den Menschen Trost zu spenden und Tatkraft im Angesicht der Ohnmacht zu signalisieren.
Doch als Seehofer spricht, als er in die Mikrofone der Journalisten sagt, alles deute auf ein rassistisches Motiv hin und der Rassismus sei ein Gift, da brüllt ein Mann: «Was macht denn die Politik, das ist doch nur Show! Ihr seid nicht für die Menschen da!»
Hanau ist aufgewühlt an diesem Donnerstag. In der Nacht war ein Täter durch die Stadt gezogen und hat offenbar gezielt Menschen mit Migrationshintergrund erschossen. Erst tötete er um etwa 22 Uhr vier Menschen in der Innenstadt, zuerst in der Shisha-Bar «Midnight» und dann im Café «La Votre». Dann zieht er weiter in den Stadtteil Kesselstadt im Westen Hanaus. Am Kurt-Schumacher-Platz tötet er im Café «Arena» fünf weitere Menschen.
Um etwa 3 Uhr stürmt ein Spezialeinsatzkommando seine Wohnung nahe des zweiten Tatorts. Sie finden den mutmasslichen Täter und dessen Mutter tot auf, erschossen.
Der Verdächtige, Tobias R., 43 Jahre alt, hat sich im Internet in einem Manifest und in mehreren Videos erklärt. R. fühlte sich demnach von dunklen Mächten verfolgt und beschreibt ausführlich seinen Rassismus und wirre Verschwörungstheorien.
Das Haus, in dem er offenbar mit seiner Mutter wohnte, ist am Donnerstagvormittag grossflächig abgesperrt. An der Absperrung steht eine Frau. Sie sagt, dass sie eine Nachbarin des mutmasslichen Täters sei. Ihren Namen will sie nicht nennen, ihre Aussagen passen zu anderen Informationen, etwa dass die Mutter pflegebedürftig war.
Die Nachbarin beschreibt Tobias R. als unauffällig und gepflegt. Sie habe ihn nie mit jemand anderem zusammen gesehen, er sei immer alleine gewesen. Auch bei schlechtem Wetter soll er kurze Hose und T-Shirt getragen haben, das ist der Frau im Gedächtnis geblieben. Verwirrt? Nein, so habe er nicht gewirkt. Aber Blickkontakt mit anderen Menschen habe er nie aufgenommen – und sei immer schnell weg gewesen.
«Es ist unglaublich, was hier passiert ist», sagt die Frau. «Ein Drama. Ich kann es nicht glauben, dass sowas in unserer Nachbarschaft passiert ist. Ich habe eine Riesenangst. Das ist wie im Film. Ich kann das noch gar nicht realisieren.»
Am Café «Arena» am Kurt-Schumacher-Platz in Kesselstadt, dem zweiten Tatort aus der Nacht, steht Angelika Diaz. Sie wohnt in der Nachbarschaft, war jeden Tag im «Arena», einem 24-Stunden-Kiosk, hat Zigaretten gekauft. «Die Mitarbeiter waren alle wie eine Familie», sagt sie. «Es ist unbegreiflich, ohne Worte.»
In der Nacht habe ihre Tochter sie angerufen und gesagt, hier sei eine Schiesserei gewesen. «Mein Enkelsohn ist gleich runter», sagt Diaz. Da seien Polizei und Krankenwagen noch gar nicht da gewesen. Und da habe er gesehen, «dass unsere Freunde abgeschlachtet worden sind».
Am Vortag habe sie noch mit einem Mitarbeiter gesprochen, mit ihm gelacht, er habe gefragt, wie es ihr geht. «Und heute Nacht soll er tot sein. Jetzt ist bei mir im Kopf drin, der liegt da noch – tot.» Sie bricht ab, schüttelt den Kopf, ihr kommen die Tränen.
Einer der Menschen, die in der Nacht in Kesselstadt erschossen wurden, ist Ferhat Urhan. Sein Cousin Ali sitzt am Nachmittag im Kurdischen Kulturverein am Rande Hanaus. Es gibt mehrere Räume, alle sind heute überfüllt. Auf den Tischen steht Börek, die Menschen drum herum unterhalten sich leise, umarmen sich, manche weinen.
«Er hat meinen Cousin alleine auf dem Boden sterben lassen, das ist einer der schlimmsten Tode», sagt Ali Urhan. Ferhat hatte gerade die Ausbildung als Gas-Wasser-Installateur abgeschlossen, 23 Jahre war er erst alt. Ali zeigt ein Foto von Ferhat auf dem Handy. «Die Opfer dürfen nicht umsonst gestorben sein, ihre Fotos und ihre Namen sollen erinnert werden!»
Bei ihm sitzt Aydin Yilmaz, ein Freund der Familie. Der Opa von Ferhat habe Hanau buchstäblich mit aufgebaut, erzählt er. 1979 sei er als Gastarbeiter in die Stadt gekommen, habe Strassen gebaut, sich die Knochen kaputt gemacht. «Der Täter fuhr wahrscheinlich über Strassen, die Ferhats Opa gebaut hat!»
Mit am Tisch im Kulturverein sitzt auch Kai Klose. Für den Integrationsminister von Hessen ist es heute schon das zweite Kulturzentrum in Hanau, das er besucht. Der Landtag hätte heute eigentlich tagen sollen, stattdessen gedachten die Minister und Abgeordneten am Morgen der Opfer. «Wir haben gedacht, wir können uns an diesem Tag nicht über die Feinheiten landärztlicher Versorgung unterhalten», sagt Klose.
Er nimmt sich Zeit, hört viel zu, macht kein Aufhebens um sich. Ali Urhan ist überrascht, dass der Minister gekommen ist, er freut sich darüber. Ein starkes Zeichen sei das. Er sagt aber auch: «Ich bin fassungslos, dass in einem so demokratischen Land so etwas passiert.»
Kai Klose bleibt da nicht viel übrig, als zuzustimmen. Auch der Minister, der Mann der Tat, der eigentlich das Land gestaltet, kann heute nicht viel mehr tun als das: fassungslos sein.
Ich kenn auch keine Patentlösung, aber ich hinterfrage in meinem Umfeld Aussagen von Bekannten und Unbekannten und lasse Ausgrenzung nicht mehr zu. Die Verrohung der Sprache zeigt die Verrohung der Gesellschaft.
und traurig bin ich auch.
Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche Deutschland, H. Bedford-Strohm:
«Wir sind alle gefordert, Rassismus und Antisemitismus in den konkreten Situationen des Alltags vehement zu widersprechen.»
«Wer Rechtsextremen in einer Partei Deckung gibt, trägt Mitverantwortung dafür, wenn deren Ideologien Gehör finden.»
Rechtsextremismusforscher in Leipzig Oliver Decker:
«Auf Dauer hilft nur eine Veränderung in den Köpfen der Menschen und die Reflexion rassistischer Vorurteile und Ressentiments.» Zudem müsste die Perspektive der Opfer beachtet und ernstgenommen werden»