Dass abgelehnte Asylbewerber Passanten erstochen haben, ist in Deutschland in den vergangenen Jahren immer wieder vorgekommen. Der Schock war jedes Mal gross, die Beileidsbekundungen der Politiker tönten von Mal zu Mal schaler und phrasenhafter. Ortsnamen wie «Breitscheidplatz», «Solingen» oder «Magdeburg» blieben im kollektiven Gedächtnis als Synonyme für den Terror haften. Die Politik aber kehrte meist rasch zum Tagesgeschäft zurück, und eine grundlegende Wende in der Migrationspolitik blieb aus.
Ob dies nach dem Anschlag im fränkischen Aschaffenburg anders sein wird, muss sich noch zeigen. Das Profil des Täters erinnert, so weit es bekannt ist, an frühere Attentäter: Der 28-jährige Syrer lebte in einem Heim für Asylsuchende, war drogensüchtig, vor seiner jüngsten Tat mehrfach gewalttätig geworden und befand sich in psychiatrischer Behandlung. Eigentlich hätte er in sein Heimatland ausreisen sollen.
Das Entsetzen scheint dieses Mal allerdings grösser zu sein als nach früheren Attentaten, denn ein zweijähriges Kind kam ums Leben. Ausser dem marokkanischstämmigen Buben erstach der Attentäter am Mittwoch auch einen deutschen Passanten, der der angegriffenen Gruppe von Kindern zur Hilfe kommen wollte. Ein ebenfalls zweijähriges syrisches Mädchen und ein weiterer Passant wurden verletzt.
Anders ist auch, dass sich Deutschland im Wahlkampf befindet: Ende Februar wird ein neuer Bundestag gewählt. In den Umfragen liegt die AfD, die in der Vergangenheit stets von Anschlägen dieser Art profitiert hat, mit rund 20 Prozent auf Platz zwei. Damit sitzt sie den anderen Parteien im Nacken – und zwingt diese, Entschlossenheit zu demonstrieren.
Friedrich Merz, der Chef der Christdemokraten und wahrscheinliche nächste Kanzler, reagierte am Donnerstag, indem er den Ton deutlich verschärfte: An seinem ersten Tag als Kanzler werde er dafür sorgen, dass die Grenzen zu sämtlichen Nachbarländern kontrolliert würden, sagte er vor Journalisten (an der Grenze zur Schweiz ist dies bereits jetzt der Fall).
Alle, die illegal einreisen wollten, müssten zurückgewiesen werden, sagte Merz ausserdem. Dies gelte auch für Personen mit Schutzanspruch. Die Abkommen von Schengen und Dublin funktionierten nicht, weswegen es «einen Vorrang nationalen Rechts» brauche. Mit der EU, aber auch mit seinen Nachbarländern könnte Deutschland damit auf Konfrontationskurs gehen. Seine Politik, so Merz, würde ein «faktisches Einreiseverbot» für alle Personen ohne gültige Papiere bedeuten.
Allerdings stellt sich die Frage, in welcher politischen Konstellation der CDU-Chef die angekündigten Massnahmen umsetzen will: In einer Koalition mit den Sozialdemokraten oder den Grünen dürfte er auf Widerspruch stossen. Dessen ungeachtet gab sich Merz am Donnerstag unbeirrt: In Koalitionsverhandlungen werde er in diesen Fragen keine Kompromisse eingehen: «Ich gehe keinen anderen Weg», sagte er.
Auch Kanzler Scholz äusserte sich entschlossen, doch angesichts der Umfragewerte seiner SPD riefen seine Worte ein deutlich geringeres Echo hervor als jene Merz': Dass Scholz Kanzler bleibt, glaubt kaum noch jemand. «Ich bin es leid, wenn sich alle paar Wochen solche Gewalttaten bei uns zutragen», sagte er am Mittwoch. Falsch verstandene Toleranz sei völlig unangebracht. Konkrete Massnahmen kündigte er vorerst nicht an.
Merz scheint mittlerweile die AfD und ihre Chefin Alice Weidel als Hauptgegner zu sehen. Bereits kurz vor dem Attentat forderte er Weidel in einem Gespräch mit der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» zum TV-Duell. Das Migrationsthema spielt der AfD in die Hände. Will Merz verhindern, dass seine CDU in den Umfragen weiter an Wähleranteilen verliert, wird er in der Tat eher Weidel stellen müssen als Scholz.