314 Kilometer. Das ist die kürzeste Route zwischen München und Zürich. Mehr als das Doppelte (654 Kilometer) beträgt der Landweg zwischen Zürich und Paris. Beide Strecken habe ich im letzten Monat mit dem Zug zurückgelegt. In einem Fall kam ich planmässig in vier Stunden an, im anderen war ich rund acht Stunden unterwegs. Zweimal können Sie raten, welche Fahrt die angenehmere war: die durch Frankreich oder die durch Deutschland?
Über die eine Reise gibt es nichts Spektakuläres zu berichten: Der TGV fährt pünktlich ab, man liest, döst, bröselt sein Sandwich in die Sitzritze, sieht vom reservierten Platz aus die Landschaft vorbeifliegen, gelangt erholt an sein Ziel. Bei der anderen dagegen öffnet sich die Hölle der nackten Verzweiflung einen Spalt weit. Der letzte Funke von Hoffnung, dass die Welt nicht vollends dem Chaos untertan ist, erlischt langsam mit jeder weiteren Marterstunde.
Ein Ticket für die Deutsche Bahn zu buchen, ist wie Russisch Roulette spielen. Nur mit geringerer Chance, unbeschadet davonzukommen. Zugreisen in Deutschland wirken im Prinzip wie ein schwarzes Loch, das unermesslich Zeit, Geld und Lebensenergie schluckt. Zur Fussball-EM im Sommer fiel es auch internationalen Medien auf: Mehr als jeder dritte Fernzug trudelt unpünktlich ein. Viele stranden ganz. Fahrkartenpreise steigen stetig. Sitzplatzreservierungen entfallen ebenso regelmässig wie Klimaanlagen. Baustelle ist Dauerzustand.
Selbst buddhistische Mönche würden ob dieser Zustände ihre innere Balance schneller verlieren, als sie «Nirvana» rufen können. Doch in Deutschland wird das stoisch ertragen. Dass es nicht längst zu einem Volksaufstand der Millionen Pendler gekommen ist, lässt sich eigentlich nur mit dem tief verwurzelten deutschen Obrigkeitsdenken erklären. Das bündelte schon Lenin in dem Satz: «Wenn die Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen sie sich erst eine Bahnsteigkarte.»
Ein herbstlicher Sonntagmittag. Blätter wehen über die grauen Bahnsteige am Münchner Hauptbahnhof. Vor dem DB-Regionalexpress prügelt eine Menschenmasse auf Zugtüren ein. Der vordere Teil, der zu meinem ersten Ziel Lindau-Reutin fährt, ist heillos überfüllt. Bis zum Umstieg setze ich mich provisorisch nach hinten. In die erste Klasse, für die ich kein Ticket habe. Da ist sie erneut, die deutsche Scheu vor dem Autoritätswiderspruch: Kein anderer Reisender traut sich auf die freien Sitze, es könnte ja Zuschlag verlangt werden. Ordnung muss sein, wo kämen wir da hin?
Erst mal in Richtung Sonthofen. Das klingt beruhigend nach Milchkühen, Skilanglauf und Landradio, Hits von den 70ern bis heute. Alles hat ein Ende, nur der Zug hat zwei. Bis das Teil geteilt wird, gelangt man schon irgendwie nach vorne. Nervös wirkt nur die Zugführerin, die sich in ihrer Kabine verschanzt hat und an jedem Halt verkündet: «Achtung, hohes Fahrgastaufkommen. Nach vorne kein Zugang. Geniessen Sie Ihr Leben in vollen Zügen.»
Ich bin Eisenbahnfan, seit ich denken kann. Klötzchenzug, Legozug, Märklinzug. Mit 12 begann meine Karriere als Vielfahrer mit dem «Sommerferienticket»: Damit durfte sechs Wochen lang gratis durch Bayern reisen, wer wenigstens einmal die Bestnote im Zeugnis stehen hatte. Religion oder Sozialkunde reichten zum Glück aus. Jahrelang entdeckte ich jeden August Stück für Stück meine Heimat, besuchte die Fuggerei in Augsburg, trank Weltenburger Klosterbräu, sog den Duft von Bratwürstchen in Nürnberg ein. Bloss in Immenstadt (Allgäu) war ich bis zu diesem Sonntag noch nie.
Dort sind alle gestrandet, die nicht mehr in den Zug nach Lindau passen. Also eine Stunde warten. Gespräche der Mitwartenden offenbaren: auch Schweizer unter den Opfern. Viele. Die verstehen die Welt nicht mehr ganz, legen aber automatisch ein wirtschaftliches Urvertrauen in sie: «Das kommt schon gut! Wir haben schliesslich bezahlt!» SBB-erfahren, gehen sie davon aus, es sei der Deutschen Bahn nicht völlig egal, was aus ihnen werden würde. Ein Mann ruft beim Kundenservice an, nach 30 Minuten Warteschleife wird dort abgehängt. Allgemeiner Unmut breitet sich aus, verstärkt sich, als Anzeigentafel und App bekannt geben, dass auch im folgenden Zug eine Mitnahme nicht garantiert werden könne.
Zwar ist die Deutsche Bahn gesetzlich verpflichtet, eine Gewährleistung der gebuchten Reise zeitnah zumindest zu versuchen. Die Praxis sieht jedoch anders aus. Es geht nur noch um gröbste Schadensbegrenzung. Bis auf den Vorstand, der sich jährlich höhere Boni gewährt, wird an allen Ecken und Enden gespart. Immenstadt ist nicht der einzige Ort, an dem es weder Schalter noch Servicecenter gibt. Ganze Städte sind inzwischen komplett vom Bahnverkehr abgeschnitten. Auf dem Land im Osten kannst du noch Auto für Deutschland (AfD) fahren, alles andere ist auf der Strecke geblieben.
Die Ursachen für die Misere scheinen nur so vielgleisig, wie es das deutsche Schienennetz einst war. In Wahrheit ist die Antwort simpel: Jahrzehnte an Einsparungen (Euphemismus: «Investitionsstau») führten zu einer völlig maroden Infrastruktur. Verantwortet von einer Riege Verkehrsministern, korrekterweise Autominister, die zur Untermiete bei Porsche und Co. wohnen und im Alltag nie auf die Bahn angewiesen sind.
Der Sanierungsbedarf ist so gravierend, dass er zu meinen Lebzeiten kaum voll erfüllt werden kann. Dabei sollten einmal bis 2030 doppelt so viele Fahrgäste wie heute die Bahn nutzen. Ein visionäres Projekt, der «Deutschlandtakt», wagt sich an die Einführung eines Taktfahrplans, wie ihn die Schweiz längst hat. Allerdings dauert die vollständige Umsetzung bis zum Jahr 2070. Kein Scherz.
Es gab eine Zeit, sie ist noch gar nicht so lange her, da war eine Fahrt mit der Deutschen Bahn mit Entspannung und Eleganz verbunden. Klar, nicht ohne Macken. Aber keinesfalls in einem Ausmass, das jegliche positive Erfahrung von vorneherein verunmöglicht hätte. Im Zug habe ich mich verliebt, entliebt, wieder verliebt, schlimme Gedichte verfasst, für so manche Prüfung gebüffelt. Im Zug habe ich Abertausende Stunden meines Lebens verbracht. Er war einmal ein Stück rollendes Zuhause.
Heute ist die Deutsche Bahn ein stockender Trümmerhaufen auf dem Schrottplatz der deutschen Wirtschaft. Ein Symbol für den statistisch messbaren Abstieg des Landes in vielen Bereichen, für Ineffizienz und Inkompetenz, Bürokratisierung und Stagnation. Für eine neoliberale Dienstleistungsgesellschaft, die weder dienstet noch leistet. Zugfahren ist zum Treppenwitz geworden, der nur mehr bei den Unerfahrenen ungläubiges Staunen auslöst. Der Rest leidet stumm und hängt sich einen Panzer aus zynischem Spott um.
Nicht einmal Humor hilft in Immenstadt weiter, als der nächste Zug zur Weiterfahrt eintrifft. Fast ist man genötigt, Polizei und Feuerwehr zu Hilfe zu rufen. Die Einsatzkräfte wären mehr ent- als begeistert von der Einhaltung der Brandschutzverordnungen an Bord: Passagiere quetschen sich dicht an dicht in jedem Gang. Alle Notausgänge und Fluchtwege sind verstopft, Taschen verdecken Feuerlöscher und Notbremsen. Man mag nicht den Teufel an die Wand malen und den bösen Schottenwitz künftig auf die Bahn ummünzen: Schottisches Taxi stürzt in einen Fluss. 33 Tote.
An diesem verdammten Sonntag stehe ich mitten in der Todeszone eines Viehwagens. Der Albtraum für Klaustrophobiker. Eine Hand am Rollkoffer, die andere klammert sich an den Vordermann. Der Zug fährt ruckartig, schleppt seine Last nur schrittweise voran. Ein Rentnerinnenchor hustet mir von der Seite das Lied der lustigen Viren ins Ohr, von hinten niest es spritzend in den Nacken. Ein Baby schreit permanent; weil die Windeln voll sind und die Toilette versperrt oder weil es gerade von den Menschenmassen erdrückt wird, lässt sich nicht feststellen.
Mit fast zweistündiger Verspätung, schmerzenden Plattfüssen und um ein paar blaue Flecken reicher treffe ich in Lindau ein. Der Anschlusszug hat erwartungsgemäss nicht gewartet. Dafür harre ich eine weitere Stunde aus. Der Schweizer Part der Reise klappt (trotz Olma) tadellos. Das «S» in «SBB» steht für Schlaraffenland. Dessen Bewohner dennoch nörgeln, wenn die Züge unter warmen Entschuldigungen fünf Minuten zu spät kommen (was offiziell in Deutschland nicht mal als Verspätung zählt).
Trotzdem bin ich, als ich am späten Abend in Zürich ankomme, nur mehr ein Wrack. Wütend, traurig, ausgelaugt, nervlich am Ende. Und dies mindestens zum zehnten Mal allein in diesem Jahr. Diese Pannenfahrt war eine zu viel, jetzt ist fertig lustig. Ich beschliesse, nicht weiter Spielball zu sein. Der Zug der permanenten Unzuverlässigkeit ist endgültig abgefahren – ohne mich. Auch den Schweizerinnen und Schweizern kann man nur dringende andere Verkehrsmittel in Deutschland ans Herz legen.
Die Fahrt vom 20. Oktober 2024 – ein schönes Datum – soll meine letzte mit der Deutschen Bahn gewesen sein. Ich schaue mich nach einem Gebrauchtwagen um, dem ersten meines Lebens. Und ich werde fliegen, selbst die lächerlich kurze Strecke von Zürich nach München. Bahnbangen schlägt Flugscham. Ich werde in der Schlange für die Sicherheitskontrolle stehen oder im Stau auf einer deutschen Autobahn warten und mich ärgern. Vielleicht werde ich kurz daran denken, dass ich jetzt ebenso die Bahn hätte nehmen können. Aber nur für einen Moment. Dann geht es wieder vorwärts. (aargauerzeitung.ch)