Europa mag in vielen Fragen zerstritten sein, doch in einem ist man sich einig: Die EU muss ihre Aussengrenzen schützen. Der Kontrollverlust in der Flüchtlingskrise 2015 und das Sicherheitsvakuum im Nachgang zu mehreren Terror-Attacken haben zur Erkenntnis geführt, dass das grenzfreie Europa nach innen nur beibehalten werden kann, wenn EU-Staaten die Kontrolle haben, wen sie von aussen hereinlassen. Die «Festung Europa», sie ist längst Realität geworden.
Der Mann, der diese Politik umsetzen muss, heisst Fabrice Leggeri. Der Absolvent der französischen Kaderschmiede «Ecole Nationale d'Administration» (ENA) ist seit 2015 Direktor der EU-Grenzschutzbehörde Frontex. Als Chef der streng hierarchisch organisierten Truppe unterstützt der 52-Jährige die EU-Staaten bei der Kontrolle ihrer Aussengrenzen.
Und diese Aufgabe wird immer grösser: Während Frontex 2015 noch über ein Budget von rund 100 Millionen Euro verfügte sind es heute bereits 544 Millionen. Satte 5,6 Milliarden werden es im Zeitraum 2020-27 insgesamt sein. Parallel dazu erfolgt ein beispielloser Ausbau des Personalbestands: Von 1500 Grenzschützern wird das Corps auf Order der EU-Mitgliedsstaaten auf rund 10'000 Mann aufgestockt.
Leggeri, der sich den Grossteil seiner Karriere im französischen Innendepartement und der EU-Kommission mit Migrationsfragen beschäftigte, wird damit zu einem der mächtigsten EU-Beamten überhaupt.
Doch es gibt Zweifel, ob der Franzose der Aufgabe gewachsen ist. Sein Umgang mit wiederkehrenden Vorwürfen, Frontex habe sich im Ägäischen Meer an Menschenrechtsverletzungen beteiligt, lässt zu wünschen übrig. Es geht nicht nur um illegale Rückweisungen von Flüchtlingen im Mittelmeer, sondern auch um Mobbingvorwürfe und darum, ob Leggeri der Frontex-Grundrechtsbeauftragten systematisch Informationen verschwiegen hat. Die Europäische Betrugsbehörde Olaf hat ein Verfahren eröffnet und Durchsuchungen in den Frontex-Büros in Warschau durchgeführt.
Des Weiteren stehen Vorwürfe im Raum, Frontex habe sich in den vergangenen Jahren etliche Male mit Lobbyisten der Rüstungsindustrie getroffen, ohne dies öffentlich zu machen. Das EU-Parlament, vor dem Leggeri bereits mehrere Male ausgesagt hatte, will es auch genauer wissen: Eine Sonderarbeitsgruppe wird die Arbeitsweise von Frontex untersuchen und einen Bericht vorlegen.
Das Problem: Leggeri ist formell niemandem zur Rechenschaft verpflichtet ausser dem Frontex-Verwaltungsrat, dem neben den 27 Vertreter der Mitgliedstaaten und zwei Vertretern der EU-Kommission auch die Mitglieder des Schengenraums Norwegen, Island und der Schweiz angehören.
Und dieser Verwaltungsrat hat Leggeri – abseits einiger Unmutsbekundungen – immer gestützt. Immerhin setzt Leggeri die Politik durch, die vom Gros der Mitgliedstaaten gewünscht ist. Auf die Frage, ob er noch tragbar sei, verweist man bei der Eidgenössischen Zollverwaltung auf die Frontex-interne Untersuchung der Vorwürfe und darauf, dass man in der entsprechenden Arbeitsgruppe aktiv mitwirken würde. Daneben sei klar, «dass die Grundrechte bei allen Einsätzen von Frontex ausnahmslos eingehalten werden müssen.»
Leggeri selbst sieht bislang keinen Grund, an seinem Verbleib im Amt zu zweifeln: «Es ist meine Pflicht, die Arbeit weiterzuführen», sagt er im Interview mit der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Trotz der Pandemie habe seine Behörde sehr gute Arbeit geleistet und verdiene dafür auch Anerkennung.
Dass es im vergangenen Jahr zu einer Häufung von Meldungen über illegale Rückweisungen gekommen ist, erklärt Leggeri damit, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan im Februar 2020 Tausende Flüchtlinge an die griechisch-türkische Grenze geschickt hat. Die griechischen Behörden, deren Kommando Frontex vor Ort unterstellt sei, hätten die Situation daraufhin als «hybride Bedrohung» der nationalen Sicherheit eingestuft und damit zusätzliche Massnahmen bei der Verteidigung der Grenzen gerechtfertigt.
Tatsächlich erfuhr die griechische Rückweisungspolitik im Jahr 2020 breite Unterstützung der übrigen EU-Staaten, was auch der medial-inszenierte Besuch der EU-Spitzen Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel an der griechischen Grenze Anfang März zeigte. Dem griechischen Premier Kyriakos Mitsotakis der Leyen dankte von der Leyen bei der Gelegenheit, das «europäische Schutzschild» in diesen Zeiten zu sein.
Fazit: Die EU-Mitgliedstaaten sind sich bewusst, dass die Parole «Aussengrenzen schützen» ihre Kehrseite hat. An Frontex-Direktor Fabrice Leggeri liegt es, auf dem schmalen Grat zwischen Aussengrenzschutz und der Respektierung von EU-Grundwerten wie der Genfer Flüchtlingskonvention zu wandern.
Klar ist aber auch, dass sich Leggeri keine Fehler mehr erlauben darf. Der politische und mediale Druck steigt, einen Schuldigen für die verkorkste EU-Migrationspolitik zu finden. Schon heute fordern die europäischen Sozialdemokraten und Teile der Grünen den Kopf von Leggeri. Auch die schwedische EU-Innenkommissarin Ylva Johannson kritisiert Frontex und ihren Chef inzwischen immer offener.
Sollte nun noch die Untersuchung der EU-Betrugsbehörde Olaf oder die Frontex-interne Analyse etwas gegen Leggeri zu Tage fördern, dürften seine Tage gezählt sein.