Eine geschlagene Viertelstunde dauerte es, bis das Gericht in Vannes (Bretagne) die Namen aller Opfer verlesen hatte. Deren 299 hatte der Chirurg Joël Le Scouarnec laut der Anklage missbraucht oder vergewaltigt. Im Durchschnitt waren sie elf Jahre alt. Kinder.
Der Fall erschüttert die Franzosen wie letztes Jahr der Prozess der Massenvergewaltigung von Gisèle Pelicot in Südfrankreich. Wie ihr Ex-Mann Dominique Pelicot ist Le Scouarnec geständig. «Ich habe abscheuliche Taten begangen, die nicht reparierbar sind», sagte der 74-jährige Angeklagte mit weissem Haarkranz am Montag zum Prozessauftakt, um sich bei den Opfern zu entschuldigen.
Und auch in Vannes fragen sich die auf mehrere Säle aufgeteilten Zivilkläger, wie aufrichtig der Angeklagte es meint. Oder wie gespalten seine Persönlichkeit ist: Wenn diese Woche Familienangehörige aussagten, vergoss der skrupellose Kinderschänder plötzlich Tränen.
In seinem Tagebuch hingegen, in dem er über seine Untaten genaustens Buch führte, hielt Le Scouarnec an einer Stelle fest: «Während ich meine Morgenzigarette rauchte, überlegte ich, dass ich schwer pervers bin.» Um anzufügen: «Ich bin ganz glücklich damit.» Wie unglücklich er seine Opfer machte, wenn er sich – unter anderem während der Anästhesie – an ihnen verging, fragte er sich laut seinem von 1989 bis 2014 geführten Tagebuch nie.
Jetzt fragt sich die Nation erneut: Wie konnte so etwas passieren, ohne dass jemand diesem jahrelangen Treiben Einhalt gebot? Die Ärzte und die Behörden waren trotz einer früheren Verurteilung Le Scouarnecs im Jahr 2005 passiv geblieben, hatten ihm weiter freie Hand gelassen. Die Staatsanwaltschaft startete zwar eine Ermittlung «gegen unbekannt», aber bisher ohne Resultat. Vielleicht bringt nun der stark mediatisierte Prozess neue Dynamik in die Ermittlungen.
Auch die Familienangehörigen wurden bisher nicht belangt. Nach französischem Recht müssen sich direkte Verwandte nicht gegenseitig anzeigen – ausser bei sexueller Gewalt gegen Minderjährige. Diese Ausnahme ist hier gegeben.
Die Blicke richten sich darum vor allem auf Marie-France Le Scouarnec, die fast fünfzig Jahre mit dem pädophilen Arzt zusammenlebte, bevor sie sich 2023 von dem inhaftierten Mann scheiden liess und wieder ihren früheren Namen Lhermitte annahm.
Am Mittwoch war die 71-Jährige als Zeugin vorgeladen. Bei ihrer Ankunft versteckte sie sich unter einem aufgeklappten Schirm, einer Gesichtsmaske und einer Perücke. Von der Gerichtspräsidentin sogleich gefragt, ob sie während Jahrzehnten nichts von den pädophilen Akten mitgekriegt habe, erklärte sie kategorisch: «Nichts liess darauf schliessen. Nichts, nichts, nichts. Ich hatte nie die geringsten Zweifel.»
Marie-France Lhermitte, frühere Le Scouarnec, erklärte, sie habe nicht einmal gewusst, dass ihr Mann schon einmal 2005 verurteilt worden sei. Jetzt will Gerichtspräsidentin Aude Buresi wissen, ob ihr bei einer späteren Hausdurchsuchung durch die Gendarmen auch kein Licht aufgegangen sei. Die ausweichende Antwort: Diese Polizeiaktion sei «ein Irrtum» gewesen, habe ihr Mann zu ihr gesagt.
In seinem Tagebuch notierte ihr Mann allerdings schon 1996: «Sie weiss, dass ich pädophil bin.» Die Angesprochene behauptet, damit sei nicht sie gemeint gewesen. Sie ärgert sich über die Fragen: «Ist das etwa mein Prozess?» Gerichtspräsidentin Buresi erinnert vielmehr daran, dass sich Le Scouarnec an zwei Nichten vergangen habe und dafür 2020 in einem ersten Prozess verurteilt worden sei. Seither sitzt er im Gefängnis. «Stimmt es», will die Gerichtsvorsteherin von der ehemaligen Frau Le Scouarnec wissen, «dass sie zur Mutter der beiden Nichten, also ihrer Schwägerin, entschuldigend sagten: ‹Viele Männer lieben kleine Mädchen› ?»
Die Frau im Zeugenstand bestreitet die Aussage und sagt, die Schwägerin sei eine «Zicke». In der fünfstündigen Einvernahme, die sich bis in die Abendstunden hinzieht, fallen langsam die Masken der gutbürgerlichen Arztfamilie. Madame Lhermitte berichtet von Seitensprüngen, Alkoholismus. Sie erzählt, sie sei als Kind selbst ein Inzestopfer zweier Onkel gewesen; als Erwachsene sei sie von einem Bettpartner wie Gisèle Pelicot «betäubt und vergewaltigt» worden.
Unschöne Geschichten aus der schönen Bretagne. Familiäre Geheimnisse platzen, Unaussprechliches wird zutage befördert. Die drei Söhne von Joël Scouarnec hatten schon am Vortag ausgesagt, sie hätten nicht nur die Pädophilie ihres Vaters geheim halten müssen; ihr Grossvater – der Vater des angeklagten Chirurgen – habe seine Enkelbuben ebenfalls sexuell missbraucht, unter anderem «beim Fernsehen auf seinen Knien».
Nach der Familiengeschichte wird das Gericht in den nächsten Tagen Le Scouarnec einvernehmen. Dann kommen die 299 Pädophilie-Dossiers drei Monate lang zur Sprache, aufgeteilt nach den Arbeitsorten Le Scouarnecs: «Klinik Vannes» oder «Krankenhaus Quimperlé» steht auf dem Gerichtsprogramm, gefolgt von «Lorient», «Ancenis», «Jonzac». Es sind unterschiedliche Spitäler, aber es ist 299 Mal die gleiche Geschichte. Ein Albtraum des Touchierens, Masturbierens, Fingerpenetrierens. Oft verdrängt, bewusst vergessen, bis zu einem plötzlichen Flashback, von einem Mann in Weiss, der sich im Spital über das Kinderbett beugt und die Bettdecke hochhebt. (aargauerzeitung.ch)
Wenn die Berichterstattung und Aussagen stimmen, muss das aber auch eine extrem kaputte Familie sein mit sexuellen Vergehen über Generationen hinweg. Die Frau kann sich nicht mit Unwissenheit reinwaschen, sie hat bewusst und rückgratlos weggeschaut.
Ich frage mich mehr, wie solche Vorfälle den Arbeitskollegen nicht auffallen können. Es arbeitet doch kein Arzt alleine an narkotisierten Patienten, da ist normalerweise immer ein ganzes Team inkl. Pflegepersonal. Der wurde über Jahrzehnte hinweg nie erwischt?