Es war einmal ein Strand, einer der schönsten und wildesten Frankreichs – ein Paradies für Surfer und Badefreunde. Auf den vergilbten Fotos in der Brasserie La Côte d'Argent sieht man noch, wie «Lacanau plage» vor 50 Jahren aussah. Damals war der Strand bei Ebbe mehrere hundert Meter breit. Für die Familien unter Sonnenschirmen hatte es endlos Platz. In der Brandung verloren sich die Wellenreiter und am Strandabhang tollten Kinder in den Betonbunkern aus dem Zweiten Weltkrieg herum.
Heute sind die Bunker versunken, der Abhang ist weg. Das Wasser habe ihn «gegessen» (mangé), sagt Hervé Cazenave, mit dem wir uns in der Brasserie treffen. Der Zuständige für die Küstenpartie seiner Gemeinde kommt trotz des bissigen Regenwetters in kurzen Hosen zur Führung durch Lacanau Océan, wie der Ort heute heisst. «Lacanau plage» trifft nicht mehr zu ohne «plage», ohne den Strand.
Cazenave zeigt auf die wuchtigen Stützen, auf denen das weit ins Meer vorgelagerte Restaurant Kajoc steht. Den Sand darunter frisst das Meer, im Rhythmus von einem bis zwei Metern im Jahr. «Und bei Stürmen wie ‹Christine› im Jahr 2014 verliert die Küste bis zu zehn Meter», erzählt Cazenave, der hauptberuflich Swimmingpools wartet. Laut Nasa ist der Meeresspiegel hier in zwanzig Jahren um 9,3 Zentimeter gestiegen. Genug, um das Kajoc zu unterhöhlen.
Im nasskalten Wind führt Cazenave über die topfebene Sandpartie, die jetzt, in der Flut, gerade mal zwanzig bis dreissig Meter breit ist. Für Badende hat es nur noch während der Ebbe genügend Platz. Auch Surfer sind keine zu sehen. Nur drei gelbe Bagger machen sich im Sand zu schaffen. Sie errichten am Abhang einen Wall aus Felsblöcken gegen die anrollenden Wellen.
Oben auf der Esplanade sind die Cafés, Surfshops und Eisbuden mit wenigen Ausnahmen geschlossen. Für die Sommerzeit wird gerade eine abbaubare Holzterrasse erstellt. Er erteile nur noch provisorische Baubewilligungen, sagt Cazenave bestimmt. Die ganze Promenade wird gerade renoviert und in eine hübsche Flaniermeile verwandelt. Alt wird sie aber kaum: 2030 könnte sie laut dem Gemeindevertreter wieder abgebaut werden.
Dann will Lacanau Océan den Rückzug ins Hinterland antreten. «Relocalisation», nennt es Cazenave: Umsiedlung. Wenn der Wasserpegel weiter steigt und der Wind den Strand so stark abträgt, dass auch die Felsbrocken unterspült werden – dann bleibt dem Ort keine andere Wahl mehr als der «strategische Rückzug» hinter die Stranddünen, wie der Küstenverantwortliche sagt.
Was das konkret heisst? Bei dem «Lacanau surf club» zeigt Cazenave auf die vordersten Häuser mit Meersicht: «Mehrere Gebäudereihen und Strassenzüge sollen hier mit Zeithorizont 2050 verschwinden, um weiter im Land wieder aufgebaut zu werden.» Der Surf Club werde noch in diesem Jahr abgerissen. Hinter der Düne soll ein Surf- und Kitezentrum entstehen, noch weiter im Land drinnen eine Gewerbezone für die Produktion von Surf- und Paddlingbrettern.
Der eigentliche Umzug soll laut den kommunalen Plänen 2030 beginnen. Die Studien sind erstellt, die Einwohner haben sich an Versammlungen von Cazenave orientieren lassen. Bis dahin werden die Bagger jeden Winter Steinwälle konsolidieren oder neu errichten. Diese baulichen Schutzmassnahmen verschlängen zwei Drittel des kommunalen Investitionsbudgets, sagt Cazenave. Das sei auf die Dauer nicht haltbar. Es bleibt nur die Umsiedlung.
Wenn es nur so einfach wäre, ein Dorf ganz oder teilweise ins Hinterland zu verfrachten. Die 6000 Einwohner von Lacanau, zu denen im August bis zu 100'000 Feriengäste kommen, sind allein schon von der Vorstellung überfordert. Die wenigen, meist pensionierten Dauergäste sprechen auf der Strandpromenade ungern über «relocalisation». Vielleicht, weil ihnen das Thema die Endlichkeit ihres kleinen Paradieses vor Augen führt. Im pfeilergestützten Restaurant Kayoc bedeutet eine Angestellte schroff: «Wir geben Journalisten keine Auskunft.»
Freundlicher empfängt Valérie Bru in ihrem gleichnamigen Immobilienbüro, dem ältesten im Ort. Aber auch sie meint, die «relocalisation» werde von dem Medien aufgebauscht. «Die Bodenpreise sind jedenfalls nicht gesunken. Der Quadratmeterpreis für eine Ferienwohnung liegt nach der Covid-Flaute im Gegenteil wieder bei 5000 Euro.»
Aurélie, eine junge Nordfranzösin, hat im letzten Jahr sogar eine kleine Ferienwohnung im Süden des Ortes gekauft und hübsch renoviert. Etwa hundert Meter von der Wasserlinie entfernt. In einem halben Jahrhundert würde der Atlantik die Residenz Bleue Marine erreichen. Und dann? Aurélie zögert und sagt dann, sie denke nicht so weit.
60 Kilometer nördlich von Lacanau gibt es bereits einen Präzedenzfall. In Soulac-sur-Mer ist ein fünfstöckiger Wohnblock direkt am Strand anfangs 2023 abgerissen worden. Wegen der Erosion hatte es Risse bekommen. Der Staat enteignete die Eigentümer der 74 Ferienwohnungen. Nach langen Verhandlungen erhielten sie 70 Prozent des früheren Wohnwertes.
In Lacanau Océan ist nicht nur ein einzelnes Gebäude, sondern ein ganzes Strandviertel mit 1500 Häusern und Wohnungen vom Abbruch bedroht. Und Lacanau ist nur einer von 126 erosionsgefährdeten Orten an der 200 Kilometer langen Atlantikküste Südwestfrankreichs. Das geht ins Geld. Allein in Lacanau würden sich die Entschädigungsansprüche nach heutigem Recht auf 500 Millionen Euro belaufen. Für Cazenave ist klar: Die Region, der Staat und die EU müssten den grössten Teil übernehmen. Vereinbart ist aber nichts.
Der regionale Umweltverein Vive la Forêt sieht darin den Beweis, dass die Bewohner von Lacanau buchstäblich nasse Füsse kriegen: «Jetzt, wo die Leute sehen, welche Kosten und konkreten Konsequenzen anfallen, wollen sie nicht mehr umziehen», sagt Vereinspräsident Patrick Point. Dabei gäbe es langfristig gar keine Alternative zum Rückzug hinter die Dünen: «Seit den 70er Jahren hat Lacanau über die Strand- und Dünenlinie hinaus ins Meer gebaut und dabei viele Bausünden begangen. Immer mehr Felsblöcke aufzuhäufen, bringt nichts», meint der zum Naturschützer mutierte Ökonom. «Das Meer ist immer stärker.»
Und der springende Punkt, die Entschädigung der umgesiedelten Eigentümer? Point verweist auf das von Präsident Emmanuel Macron 2021 lancierte Gesetz «Klima und Widerstandskraft». Es sehe einen Mechanismus vor: Der Wert eines erosionsbedrohten Hauses sinke über 30 Jahre kontinuierlich bis auf null. Wer zuwarte mit dem Verkauf, müsse also später mit einem tieferen Enteignungsbetrag rechnen.
Bloss denke niemand an das Gesetz, sagt Point: «Man tut, als gäbe es den Mechanismus nicht, damit der Immobilienwert konstant bleibt. Damit würde aber letztlich die ganze Umsiedlung aufgeschoben.» Fast scheint es, als werde den Einwohnern eben erst bewusst, was auf sie zukommt – und wie stark die Klimaerwärmung ihren Alltag beeinflussen wird.
Wieso zum Teufel soll der Staat für das eingegangene Risiko einer Privatperson zur Kasse gebeten werden? Verstehe ich wirklich nicht.