Es sah lange Zeit nicht gut aus für Präsident Macron. Hunderttausende, bisweilen mehr als eine Million gingen im Frühling gegen seine Rentenreform und die Erhöhung des Rentenalters um zwei Jahre auf die Strasse - wieder und immer wieder. In ganz Frankreich bildete sich die massivste Sozialfront der letzten Jahrzehnte. Abgelegene Dörfer erlebten erstmals überhaupt eine «manif», eine Demonstration, und in Paris kam es zu Zusammenstössen mit der Polizei.
Allerdings liessen es die Gewerkschaften nie zum Äussersten kommen. So mächtig sie auftrumpften, boten sie nie Hand zu Ideen, einen Sturm auf das Élysée zu organisieren oder dem Präsidenten in seinem Palast zumindest den Strom abzustellen. Sogar die politisch radikale CGT blieb republikanisch, so wie es ihre Mutterpartei, die Parti Communiste, in Frankreich aus Tradition ist.
Diese verantwortungsvolle Haltung, die den trittbrettfahrenden Schwarzen Block an den Demos erfolgreich isolierte, bewirkte aber letztlich die Niederlage der Gewerkschaften: Macron konnte die Proteste aussitzen und auf Zeit spielen. Dabei hat seine Partei Renaissance in der Nationalversammlung nicht einmal eine Mehrheit; der Präsident musste die Reform deshalb über die Köpfe der Parlamentarier hinweg mit einem Verfassungstrick durchdrücken. Als der Verfassungsrat den Einsatz dieser institutionellen Brechstange im April genehmigte, hatte die Linke keine Handhabe mehr.
Gut vier Monate später, am 1. September, tritt die Reform nun in Kraft. Die zwei wichtigsten Neuerungen: Das Rentenalter steigt von 62 auf 64 Jahre. Zudem entfallen die vorteilhaften Systeme der «régimes spéciaux» für die Pariser Metroangestellten, den Staatskonzern Électricité de France oder die Banque de France.
Die zahlreichen Ausnahmen, die Macrons Premierministerin Elisabeth Borne den Gewerkschaften zugestehen musste, zeugen allerdings von der Härte des Konfliktes. Wer schon mit 17 oder 18 Jahren ins Berufsleben eingestiegen war, geht entsprechend früher in Rente. Die tiefste Rente beträgt nun 848 Euro, hundert mehr als bisher. Mütter erhalten fünf Prozent mehr Rente. Körperlich hartes Arbeiten schafft Anspruch auf Weiterbildung.
Wie immer, wenn an einer Sozialreform herumgeschraubt wird, um Ungerechtigkeiten zu eliminieren, entsteht neue Willkür. Im harten Kampf billigte Macron den Operntänzerinnen die Wahrung ihres Spezialregimes zu, nicht aber den Theaterschauspielern der Comédie Française. Auch die Matrosen und Piloten, Anwälte und Notare, Ärzte und Apotheker wahren Privilegien - weil sie am lautesten protestiert oder im Élysée am erfolgreichsten lobbyiert hatten.
Viel gerechter ist das neue Rentensystem deshalb nicht. Und auch wenn sich der Ruhestand mit 64 Jahren dem europäischen Schnitt annähert, bleibt das System der französischen «retraite» wegen der vergleichsweise hohen Pensionen sehr teuer. Was ihre Zukunft betrifft, sind die Französinnen und Franzosen skeptisch: Laut einer Umfrage wollen 84 Prozent, vor allem Jüngere, zusätzlich zur staatlichen Pension eine private Rentenversicherung abschliessen. Die Kapitalisierung dürfte damit durch die Hintertür auch in Frankreich Einzug halten, obwohl Macron wie die gesamte Linke an dem bisherigen Umlageverfahren festhalten will. Wenn sich ein Grossteil der Bevölkerung privat versichert, dürfte es aber nur eine Frage der Zeit sein, bis auch Frankreich die Pensionskassen allgemein einführt.
Und Emmanuel Macron? Der 2022 wiedergewählte Präsident hat sein wichtigstes Wahlversprechen gegen heftigen Widerstand eingelöst. Doch die Pariser Medien sprechen, wenn überhaupt, von einem «Pyrrhussieg». Unpopulär, weil er die Reform gegen klare Umfragemehrheiten in Kraft setzt, und ohne Parlamentsmehrheit wirkt der Staatschef angeschlagen, ja ausgebrannt.
Anders seine Gegner. Die neue CGT-Chefin Sophie Binet warnte Macron im Hinblick auf das Inkrafttreten der Rentenreform: «Die Wut bleibt sehr gross.» Will heissen: Die Gewerkschaften und die Linksparteien warten nur auf eine Gelegenheit, es dem geschwächten Staatschef heimzuzahlen.
Die Rechte trumpft auf und verlangt eine Volksabstimmung über das Reizthema Immigration. Die Linke, allen voran die «Unbeugsamen» von Jean-Luc Mélenchon, fordern eine Tarifrunde zur Abfederung der Inflation.
Macron wirkt dagegen wie gelähmt. Er inszeniert grosse, aber völlig inhaltsleere Happenings, die vom Inkrafttreten der Reform ablenken sollen. In der Nacht auf Donnerstag empfing er die französischen Parteichefs bis um drei Uhr in der Früh - ohne eine einzige konkrete Ankündigung zu machen. Seine vier verbleibenden Jahre im Élysée bis zu den Neuwahlen - 2027 kann Macron verfassungsbedingt nicht mehr antreten - scheinen derzeit wie eine Ewigkeit. (aargauerzeitung.ch)
Das wird aber nicht passieren weil sowohl die linke als auch die rechte Opposition wissen, dass die Reform notwendig war. Beide Seiten nutzen einfach die Gunst der Stunde um ihre eigene Agenda zu pushen und auf der Empörungswelle möglichst lange zu reiten, um Stimmen zu gewinnen.