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In Frankreich kocht die Migrationsdebatte hoch

In Frankreich kocht die Migrationsdebatte hoch – und könnte den Premier zu Fall bringen

Brandmauer, Messerattacken: Wie in Deutschland zerstreiten sich die Rechte und die Linke in Frankreich über das Thema Einwanderung. Premier Bayrou greift zu derber Rhetorik.
02.02.2025, 19:11
Stefan Brändle, Paris / ch media
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Questions To The French Government At The National Assembly Francois Bayrou, the French Prime Minister, speaks during the session of questions to the French government at the National Assembly in Pari ...
Francois Bayrou, der französische Premierminister, spricht vor der Nationalversammlung.Bild: imago

Hat sich François Bayrou sein eigenes politisches Grab geschaufelt? Erst vor sieben Wochen zum Chef einer fragilen Minderheitsregierung ernannt, hielt sich der 73-jährige Mitte-Politiker bisher geschickt über Wasser. Mit einigen gezielten Konzessionen schaffte er es, die Linksfront aufzubrechen und die Sozialisten auf seine Seite zu ziehen.

Linkenchef Jean-Luc Mélenchon wütete zwar über den «Verrat» der Sozialdemokraten; doch erstmals seit der verpatzten Ansetzung von Neuwahlen durch Präsident Emmanuel Macron im Sommer 2024 gewann eine Regierung wieder etwas Boden unter den Füssen.

Jetzt macht Bayrou diese vorsichtige Aufbauarbeit mit einem Schlag, oder besser gesagt, mit einem Satz zunichte. In einem Fernsehinterview erklärte er vergangene Woche, die Franzosen litten unter einem «Gefühl der Überschwemmung» durch Migranten. Die Linke reagierte mit einem Aufschrei auf diese Wortwahl aus dem Vokabular der extremen Rechten.

Sozialistenchef Olivier Faure sagte die Verhandlungen mit der Regierung über den – immer noch nicht verabschiedeten – Haushalt 2025 kurzerhand ab. Er schliesst nicht mehr aus, dass seine Partei mit den Links- und Rechtspopulisten einen Misstrauensantrag gegen Bayrou mittragen könnte. Es wäre der vierte Regierungssturz in einem Jahr, und auch Macron würde ihn aufgrund seiner politischen Isolation womöglich nicht überleben.

Tod eines 14-jährigen Schülers in Paris

Warum Bayrou mit seiner Bemerkung bewusst – weil wiederholt – ins Wespennest der Migrationsdebatte sticht, bleibt sein Geheimnis. Vermutlich versucht er, sich das Stillhalten von Rechten-Chefin Marine Le Pen zu erkaufen. Damit könnte er den Haushalt ohne Misstrauensantrag durchbringen. Le Pens Rassemblement National (RN) applaudierte jedenfalls kräftig zu Bayrous Aussagen.

Die Migrationsdebatte ist damit in Paris über Nacht neu aufgebrochen. Und dies auch ohne Wahlhintergrund wie in Deutschland. Dem Fall «Aschaffenburg» entspricht in Paris der Tod des 14-jährigen Elias. Er starb durch den Messerstich eines Minderjährigen mit Migrationshintergrund, und das bloss wegen eines Handys.

In einer Umfrage halten 64 Prozent der Franzosen Bayrous Überschwemmungs-Aussage für zutreffend. Das «Gefühl» vieler Franzosen wird genährt durch den Umstand, dass Frankreich im vergangenen Jahr die Ausweisung von 134'000 illegal Zugereisten angeordnet, aber nur 22'000 effektiv vorgenommen hat.

Fördert die Rechte oder die Linke Le Pen?

Das Macron-Lager und die bürgerliche Rechte argumentieren, die Franzosen seien grossmehrheitlich gegen den Laxismus in Sachen Zuwanderung; wer dieses Thema Le Pen überlasse, begünstige nur ihren Sieg bei den nächsten Präsidentschaftswahlen. Die Linke kontert, die Macronisten und Republikaner kopierten bewusst Le-Pen-Themen, um ihren eigenen Wählerschwund aufzuhalten; dadurch förderten sie aber nur die Extremisten – und müssten letztlich nach ihrer Pfeife tanzen.

Dieser Vorwurf richtet sich aktuell an Bayrou. Er verweigert zwar jede formelle Kooperation mit den Lepenisten und hält rhetorisch an der «Brandmauer» gegen Le Pen fest. Indem er aber selbst den rechten Diskurs praktiziert, habe er den Schutzwall bereits aufgelöst, moniert die Linke.

Fürs Erste tanzt der Premier aber vor allem nach der Pfeife der Linken: Die Sozialisten verlangen mit Nachdruck soziale Zusätze beim Haushalt; andernfalls drohen sie ihm mit dem Regierungssturz. Von den Sparbemühungen der Macron-Regierung im neuen Staatsbudget wird damit nicht viel übrig bleiben. Aber das ist noch mal ein anderes Problem Frankreichs. (bzbasel.ch/lyn)

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12 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Schlaf
02.02.2025 20:27registriert Oktober 2019
Es ist piep egal, ob die Linke oder die Rechte Le Pen stärkt. Illegale, welche schwerste Straftaten begehen, auf dem Radar der Behörden sind und gegen die nichts unternommen wird, stärken die Rechten, weil Links pennt und meint die halbe Welt retten zu können.

«In einer Umfrage halten 64 Prozent der Franzosen Bayrous Überschwemmungs-Aussage für zutreffend.»

Werden die Linken niemals akzeptieren können.
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Luna Merlin
02.02.2025 21:32registriert Dezember 2021
Lese ich richtig? Der Satz „Viele Franzosen leiden unter einem Gefühl der Überschwemmung durch Migranten“ ist eine Wortwahl aus dem Vokabular der extremen Rechten??

Was darf „man“ in Frankreich denn überhaupt sagen, ohne gleich als „rechtsextrem“ zu gelten? 😳. Wenn das so EXTREM ist, dann wundern ich mich nicht mehr über diese Wahlerfolge.
Ich bin seit vielen Jahren der Meinung, dass Mitte und Linke völlig ausblenden, was wirklich los ist. Dieses „Gefühl“ hat oft konkrete Gründe.

Ausserdem - seit wann kann man jemandem (oder einer Gruppe) ein GEFÜHL absprechen? Wenn es da ist, ist es da!
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Roomba Hafen
02.02.2025 21:30registriert August 2024
«Gefühl der Überschwemmung»

Wie in Deutschland, darf man auch in Frankreich die Realität nicht beim Namen nennen..
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    UN-Organisation «schockiert» nach Fund von 50 Leichen in Libyen

    In Libyen hat sich die Internationale Organisation für Migration (IOM) nach dem Fund von zwei Massengräbern mit Dutzenden Toten schockiert gezeigt. Einige der Leichen hätten Schusswunden gehabt, teilte die UN-Organisation mit. Viel zu viele Migranten erlebten Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch, sagte die Leiterin der IOM-Mission in Libyen, Nicoletta Giordano. Mindestens 49 Leichen wurden nach Angaben der Organisation in den beiden Massengräbern entdeckt.

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