War das alles? Dominique Pelicot, der Hauptangeklagte des sogenannten Mazan-Prozesses, hat im Dezember für die jahrelange Betäubung und Gruppenvergewaltigung seiner Ex-Frau Gisèle die Höchststrafe von 20 Jahren Haft erhalten. Auch wenn er darauf verzichtete, Berufung einzulegen, könnte er nun erneut vor den Kadi kommen.
Eine Pariserin beschuldigt ihn, er habe sich im Jahr 1995 an ihr vergehen wollen. Das damals zwölfjährige Mädchen lebte im 15. Stadtbezirk von Paris und öffnete die Wohnungstüre, als ein Mann läutete. Er gab sich als Elektriker aus und behauptete, er wolle den Stromzähler ablesen. Einmal in der Wohnung, zwang er das Mädchen aber, sich auszuziehen. Mit einem in Äther getränkten Wattebausch versuchte er es zu betäuben. Zum Glück kehrte in dem Moment die Mutter zurück, woraufhin der Mann die Flucht ergriff. Die Familie reichte Klage gegen unbekannt ein, die Ermittlungen kamen aber nicht weiter.
Ende letzten Jahres, als die heute 42-jährige Frau die Gerichtszeichnungen und Fotos von Dominique Pelicot sah, erkannte sie in dem früheren Angestellten des Stromkonzerns Electricité de France (EDF) ihren Angreifer wieder. Gegenüber dem TV-Sender M6 sagte sie, sie habe eine sehr präzise Erinnerung an den angeblichen Elektriker; sogar der Geruch des Äthers sei ihr geblieben.
Dieser unaufgeklärte Fall, im Jargon «cold case» genannt, ist nicht der einzige, der Dominique Pelicot betreffen könnte. Gegen den 72-Jährigen läuft auch ein Strafverfahren wegen des Angriffs auf zwei Immobilienagentinnen. Dabei brachte ebenfalls das Gerichtsverfahren in Avignon die Ermittler auf die Spur des Täters. 1991 hatte eine 23-jährige Hausverkäuferin in Paris einem unbekannten Mann eine Wohnung vorgeführt. Sie wurde erwürgt und erstochen, nachdem sie mit Äther betäubt und vergewaltigt worden war, wie die Autopsie ergab.
1995 kam es zu einem ähnlichen Szenario, als ein Unbekannter eine Immobilienagentin in einer Wohnung im Vorort Villeparisis angriff und sie zu betäuben versuchte. Sie konnte sich aber in einen Schrank retten, woraufhin der Mann flüchtete. Auch dieser Fall blieb unaufgeklärt – bis fünfzehn Jahre später die Ermittlungen in der Pelicot-Affäre einsetzten. Es zeigte sich, dass die DNA-Spuren in der Wohnung von Villeparisis zu Dominique Pelicot gehörten. Er ist geständig; den nach dem gleichen Schema abgelaufenen Mord, zu dem es keine Beweise gibt, bestreitet er hingegen.
Die Polizei hat seither fünf weitere Dossiers zu ähnlichen Sexualverbrechen zwischen 1980 und 2010 neu eröffnet. Dabei geht es um Einschläferung, teils um junge Immobilienverkäuferinnen im Grossraum Paris. Dort hatten Gisèle und Dominique Pelicot gelebt, bevor sie sich im Provence-Dorf Mazan zur Ruhe setzten.
Ihre Tochter Caroline Darian, die mit einem Buch und einem Verein das unterschätzte Phänomen der Betäubung von Sexualopfern an die Öffentlichkeit gebracht hatte, erklärte Mitte Monat in einem Interview mit dem britischen Sender BBC, ihr 72-jähriger Vater sei «ein gefährlicher Mann, der im Gefängnis sterben sollte».
Von den fünfzig Mitangeklagten, die für die Vergewaltigung von Gisèle Pelicot im Dezember mit geringeren Strafen davongekommen waren, haben deren siebzehn Berufung eingelegt. Der Berufungsprozess dürfte Ende dieses Jahres in Nîmes über die Bühne gehen. Dominique Pelicot wird dabei nur als Zeuge auftreten müssen, da er sein Strafmass nicht anfechten will.
Gisèle Pelicot ist derweil Gegenstand einer Petition, die eine Britin lanciert hat, um die 72-jährige Französin für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen. Die Initiative hat bereits mehrere zehntausend Unterschriften zusammengebracht. (bzbasel.ch)