Den französischen Polizisten bot sich am Donnerstagmorgen ein desolates Bild, als sie in Wissant nahe Calais ein mit Wasser gefülltes Schlauchboot entdeckten. Daneben sassen zwei völlig unterkühlte Männer im nassen Sand. Neben ihnen ein Dritter – tot.
Die französische Marine, Küstenwache und Seenotrettung hatten in der Nacht zuvor mit Helikoptern und Schiffen fast 300 Migranten in Lebensgefahr aufgegriffen. Sie hatten trotz tückischer Strömungen versucht, in behelfsmässigen Booten die mindestens 28 Kilometer breite Meerenge zu überqueren. Oft kentern oder sinken die Gummiboote. Das hat diese Woche zu einem zweiten Todesfall geführt. Ein dritter Migrant gilt als verschollen. Ein Eritreer wurde am Donnerstag ausserhalb von Calais von einem Regionalzug erfasst und getötet.
Im Hinterland von Calais warten derzeit mehrere Tausend Migranten auf die nächtliche Kanalüberquerung. 2016 hatte die französische Polizei ein wildes Lager mit nahezu 10'000 Migranten, den so genannten «Dschungel», geräumt. Jetzt steigen die Zahlen wieder stark an. Seit Jahresbeginn haben laut französischen Quellen 20'000 Migranten die britische Kanalküste erreicht.
Die neue Situation in Calais erklärt sich mit den zunehmenden Spannungen in Afrika und dem Mittleren Osten, aber auch dem Brexit: Die britische Regierung strafft seither die Kontrollen auf den Kanalfähren und im Zug durch den Eurotunnel.
[#Opération] Recherche et sauvetage de 126 naufragés au large du détroit du Pas de Calais (62) par le RIAS Abeille Languedoc et du PSP Cormoran de la @MarineNationale sous la coordination du #CROSS Gris-Nez Flèche ➡️https://t.co/ocTYnDBj7b pic.twitter.com/da1OBxx5bl
— Préfecture maritime Manche et mer du Nord (@premarmanche) September 11, 2021
Die gefährliche Überfahrt in den kleinen Booten bleibt die einzige Möglichkeit, um ins vermeintlich gelobte England zu gelangen, wo die Migranten Arbeit oder Bekannte zu finden hoffen und die Sprache beherrschen. Die Schlepperbanden vermitteln den Migranten aber – gegen vierstellige Beträge – meist nur überfüllte, pannenanfällige Boote.
Briten und Franzosen schieben sich die Schuld an der dramatischen Lage gegenseitig zu. London wirft Paris vor, es missachte das bilaterale, noch vor dem Brexit geschlossene Abkommen von Le Touquet, laut dem die Franzosen die Überfahrt von Migranten schon an der Küste verhindern sollen; London liefert dafür kilometerlange Metallgitter und beteiligt sich finanziell an der Küstenüberwachung. Der französische Innenminister Gérald Darmanin wirft den Briten dagegen seit Wochen vor, sie kämen ihren Verpflichtungen nicht nach.
Der britisch-französische Migrationskonflikt geht noch tiefer als der jüngste, ungelöste Fischereistreit im westlichen Teil des Ärmelkanals. Die britische Regierung hegt den Verdacht, die Franzosen liessen bewusst möglichst viele Migranten über den Kanal, um sich für den Brexit zu rächen und dessen angeblich negative Konsequenzen aufzuzeigen.
Das Londoner Newsportal Politico zitierte dieser Tage aus einem Brief des französischen Premiers Jean Castex, der die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aufforderte, «zu zeigen, dass es schädlicher ist, die EU zu verlassen, als darin zu bleiben».
Der französische Abgeordnete Pierre-Henri Dumont hält auf der BBC dagegen:
Die beiden Hauptprotagonisten stehen unter massivem Druck – Boris Johnson, weil der Migrationsdruck am Kanal trotz verschärftem Einwanderungsrecht noch zugenommen hat; und Emmanuel Macron, weil er vor den anstehenden Präsidentschaftswahlen auch innenpolitisch attackiert wird, er unternehme nichts gegen die Migranten in Calais und für die Fischer in der Normandie. Der Rechtsaussen und unerklärte Präsidentschaftskandidat Eric Zemmour ätzte:
Macron warf Johnson in der «Financial Times» sehr direkt vor, er halte sich nicht an die Verträge und lasse es an Glaubwürdigkeit mangeln. Die Regionalzeitung «L’Est Républicain» kommentierte gar, die Briten seien «unsere besten Feinde», nachdem sie Frankreich schon in der U-Boot-Krise hintergangen hätten.
Der ehemalige Botschafter in Paris, Sir Peter Ricketts, erklärte diese Woche, es sei «bestürzend» zu sehen, wie sehr sich die Beziehungen zwischen Frankreich und dem Königreich verschlechtert hätten.
appellierte er an beide Seiten.
Um die Migranten abzuhalten und «die Kontrolle über die Grenzen zurückzuerlangen», wie Johnson sagte, haben die Briten wenig Möglichkeiten. Innenministerin Priti Patel prüfte die «Turn back»-Taktik, mit der Migrantenboote durch britische Schiffe abgedrängt werden sollen; doch wie ihr französischer Widerpart Darmanin erklärte, würde dies internationales Seerecht verletzen.
Macron selbst plädiert für eine Revision des europäischen Asylrechts, damit die Migranten schon beim EU-Eintritt geprüft werden können und gar nicht erst nach Calais gelangen. Politisch scheint dies aber ebenso wenig machbar wie das britische «Turn back». So rasch wird sich die Lage am Ärmelkanal nicht entspannen. (bzbasel.ch)