Übersetzung
Dieser Text wurde von unseren Kolleginnen und Kollegen aus der Romandie geschrieben, wir haben ihn für euch übersetzt.
Es ist Mittwochmorgen, 10.20 Uhr, beim Burger King-Kreisel in Annemasse, einer Stadt im Departement Haute-Savoie, nahe Genf. Romain, ein 27-jähriger Informatiker, ruft per Megafon zur «Generalversammlung». Sein Ziel: gemeinsam entscheiden, mit welchen Aktionen es an diesem 10. September weitergehen soll – dem Tag, den die Gegner Macrons «Bloquons tout» getauft haben.
«Wir könnten zum Intermarché gehen, der etwa 150 Meter entfernt ist, und die Einkaufswagen in Beschlag nehmen. Die Leute würden weiterhin einkaufen, aber weniger konsumieren», schlägt Romain vor und lädt die rund 40 Personen, die im Kreis versammelt sind, ein, eigene Ideen einzubringen. «Es scheint, Burger King unterstütze Israel», wirft ein Teilnehmer ein und blickt in Richtung des Fast-Food-Restaurants. Ein Dritter findet, es könnte sich lohnen, die Mittelinsel des Kreisels zu besetzen, anstatt am Rand zu bleiben. «So würden uns mehr Leute sehen», meint er.
Die Polizei hält sich unauffällig in der Nähe. Vier bis fünf Männer in Uniform. Nicht mehr. «Die Polizei hat gesagt, wir dürften unsere Meinung kundtun, aber nicht den Kreisel vollständig besetzen», berichtet Romain. Was bedeutet «vollständig»? Und welche Folgen hätte eine totale Blockade dieses verkehrsreichen Autobahnkreuzes? Hier ist man sich sicher: «Die Polizei wird Tränengas einsetzen.»
Wir erfahren, dass seit Beginn der Zusammenkunft vor drei Stunden bereits «1500 Flugblätter» an Autofahrerinnen und Autofahrer verteilt worden sind.
Der Kreisel ist nach und nach mit Plakaten und Transparenten umgeben – auch mit palästinensischen Fahnen. «Steht auf der guten Seite der Geschichte», «Macron hau ab», «Schaffen wir die Lohnarbeit ab. Enteignen wir das Unternehmertum. Selbstverwaltung!», «Soziale Gerechtigkeit, Generalstreik» – einige der Slogans, die den Platz zieren. Weitere Parolen sind in Vorbereitung, den Gedanken der Teilnehmenden entsprungen. Farbtöpfe stehen bereit. Hier bald ein «ACAB» gegen die Polizei, dort gleich ein «Macron aufs Velo, weg mit dem Jet!» mit Umwelt-Gedanken.
Im Juli von einer undurchsichtigen Gruppe aus Impfgegnern und Putin-Sympathisanten mit Nähe zur rechtsextremen Szene entstanden, wurde die Bewegung «Bloquons tout!» inzwischen von der radikalen Linken und insbesondere von Jean-Luc Mélenchons Partei La France insoumise (LFI) übernommen.
Dieser Text wurde von unseren Kolleginnen und Kollegen aus der Romandie geschrieben, wir haben ihn für euch übersetzt.
Doch was soll aus diesem «Bloquons tout!» werden, damit es mehr ist als eine Eintagesaktion? Romain spricht von der Möglichkeit einer längerfristigen Besetzung – beginnend an diesem Mittwochabend, vielleicht schon in der Nacht, um am nächsten Tag weiterzumachen. «Der Fehler der Gilets jaunes war, dass es keine permanente Zusammenkunft war, sondern nur in Schüben», sagt der junge Mann. Er verweist damit auf die Aufstandsbewegung von 2018/2019, die den Mächtigen tatsächlich Angst einjagte.
Nicht wenige ehemalige «GJ» sind unter den Anwesenden. Wer sind diese Menschen, die an diesem Mittwochmorgen ab 7 Uhr beim Kreisel beim Burger King in Annemasse zusammengekommen sind?
Patrick, 71, ist ein ehemaliger Gilet jaune. Unter seiner Daunenweste trägt er ein T-Shirt mit der Aufschrift «Jeunesse antifasciste», das ihn jünger wirken lasse, witzelt er. Er bezeichnet sich selbst als Aktivisten, früher Kommunist, heute Wähler von LFI, der Partei von Jean-Luc Mélenchon. «Mit 60 bin ich pensioniert worden, nach einer Karriere im Liftbau. Ich hatte das Glück, früh aufhören zu können, danach kamen die schönen Jahre. Man muss sie geniessen, denn heute spüre ich doch, dass ich weniger fit bin.»
2018, als die Bewegung der Gilets jaunes losbrach – schon damals aus Protest gegen die hohen Lebenskosten –, war Patrick gleich am ersten Samstag der Besetzung dabei, am Kreisel von Etrembières, wo die Migros einst ein Einkaufszentrum eröffnet hatte, das später von Super U übernommen wurde. «Wir waren 500», erinnert er sich.
«Die Gesellschaft muss sich radikal neu ausrichten», erklärt Sylvain, 34-jähriger Pflegehelfer in einem Spital der Region. «Es sind die multinationalen Konzerne, die von der Arbeit eines grossen Teils der Bevölkerung profitieren, die nie zu Gesicht bekommen, was sie produziert.»
«Ich habe die Nase voll von der Macronie!» Agnès, 47, unterrichtet Französisch für Migrantinnen und Migranten in Genf und gibt daneben auch Klavierunterricht. Sie sagt, sie habe «die Nase voll von Macron, er hat einfach zu viel Macht». «Diejenigen, die Frankreich regieren, verspotten uns, sie machen uns runter, sie behandeln uns schlecht und arbeiten nicht für das Wohl der Menschen.»
Agnès, die in Frankreich lebt und dort bei den vorgezogenen Parlamentswahlen 2024 für die linke Koalition NFP stimmte, ist verärgert über die «klimapolitische Untätigkeit» und meint, dass «die Demokratie nicht mehr existiert». Sie unterstützt die Idee einer sechsten Republik – allerdings nicht den Initianten Jean-Luc Mélenchon. Über den LFI-Politiker sagt sie:
«Ich bin hier, um gegen alles zu protestieren, was in Frankreich schiefläuft», sagt Victor, 16, der sein letztes Schuljahr im Gymnasium beginnt. Zusammen mit seinem Vater ist er zum Kreisel gekommen, um sich gegen «Macron» zu stellen, aber auch, um den «Genozid in Gaza» anzuprangern. Er will die «unterdrückten Minderheiten» verteidigen.
Der Jugendliche hatte ursprünglich überlegt, Physik zu studieren. Er hat seine Meinung geändert. Es wird nun Politikwissenschaft oder Jura.
Christelle, 45, Krankenpflegerin für Menschen mit Behinderungen, hat früher viel «für die Grünen und, was ich heute bereue, für die Sozialisten» gestimmt. Heute gibt sie ihre Stimme LFI. «Für mehr Ökologie, mehr soziale Gerechtigkeit, für ein besseres Leben», zählt sie auf. Christelle befürwortet das RIC, das Referendum durch eine Volksinitiative, eine Forderung, die damals von den Gilets jaunes getragen wurde, denen sie ihre Unterstützung gegeben hatte – und die man auf einem Plakat am Kreisel beim «Burger King» in Annemasse wiederfindet.
«Kaum zu glauben, dass Macron, als er zum ersten Mal Präsident wurde, gerade ein Buch mit dem Titel Révolution geschrieben hatte», seufzt Michel, «30 Jahre im Kulturbereich und Sozialwesen» tätig, nun pensioniert, aber weiterhin aktiv. Auch er unterstützt das RIC, «die Wahl für das Soziale», betont er. «Nach den Gilets jaunes fängt es wieder an, und das ist erst der erste Tag. Es wird viel Repression geben mit Retailleau, dem Faschisten (dem aktuellen Innenminister)», prophezeit er. «Frankreich will die Macronie nicht mehr, die nur mit Polizei-Schlagstöcken aufrechterhalten wird.»
Michels Vorschläge haben einen revolutionären Ton.
Michel hat vierzig Jahre im Gard, im Süden Frankreichs, gelebt, wo die sechs Abgeordneten des Departements «vom Rassemblement National sind, was bedeutet, dass es den Leuten nicht gut geht». Letztes Jahr ist er nach Annemasse gezogen. Er lebt von seiner bescheidenen Rente. «Ich habe ein Theaterstück geschrieben, das ich selbst aufführe: Carotte-Neuf.3, eine Anspielung auf Artikel 49.3 der Verfassung, der von Macron so oft genutzt wird, um seine antisozialen Gesetze durchzusetzen.» Im August lief Carotte-Neuf.3 am Theater-Strassenfestival von Aurillac.
«Am 6. Dezember 2018 waren wir zu fünft in Paris. Wir schlängelten uns mit dem Auto zwischen den Feuern hindurch», erinnert sich Lydia, 42, Haushälterin in einer Organisation, deren Namen sie anonym halten möchte. Sie ist eine ehemalige Gilet jaune, wie sie selbst betont, wenn sie sich an diese Pariser Episode erinnert. Treu zu jener turbulenten Zeit hat die Bewohnerin von Annemasse die Plakate in ihrer Garage aufbewahrt. An diesem Mittwochmorgen, dem Beginn einer möglichen grossen Bewegung, zieht sie ihre Lieblingsweste, ihr gelbes Gilet, wieder an.
Lydia hat im zweiten Wahlgang der letzten Präsidentschaftswahl 2022 für Marine Le Pen gestimmt, die gegen Emmanuel Macron antrat. Ansonsten hat sie für «Asselineau» gestimmt, eine Figur aus der Verschwörungsszene. Sie macht «Macron» für den «Lockdown, einen Skandal» verantwortlich. Eine Covid-Impfung hat sie abgelehnt: «Ich war völlig dagegen.»
Sie zieht ein Blatt Papier mit gekritzelten Slogan-Vorschlägen hervor, die sie vielleicht zusammen mit ihrem «Freund», der sie am Kreisel beim «Burger King» treffen sollte, auf Plakate schreiben will: «Milliarden für Europa. Milliarden für die Ukraine. Und jetzt schicken sie Soldaten dorthin!!! Fuck off!!!», «Französische Medien, fett subventioniert mit dem Geld der Französinnen und Franzosen: alle korrupt.»
Um 15 Uhr zählten die Demonstrierenden rund 80 Personen und befanden sich mittlerweile auf der Mittelinsel des Kreisels beim «Burger King». Die Besetzung nahm langsam den Charakter eines kleinen Camps an, mit Verpflegung und sogar einem tragbaren Pizzaofen. Auch die Polizei war in grösserer Zahl vor Ort. Die Verkehrsführung verlief vorerst «ohne Behinderung», stellte ein Polizist zufrieden fest.