Als Kind wollte Alexander Boris de Pfeffel Johnson «König der Welt» werden. So zumindest erzählt es seine Schwester Rachel. Vor einem Jahr hatte er es (fast) geschafft: Am 24. Juli 2019 löste er die glücklose Theresa May als Vorsitzender der Konservativen Partei und damit als britischer Premierminister ab. Das ist nicht (mehr) die Welt, aber immerhin.
Der Start verlief holprig. Dann aber gelang es Johnson, mit der Europäischen Union einen neuen Austrittsvertrag auszuhandeln. Im Dezember führte er die Tories mit dem Slogan «Get Brexit Done» zum höchsten Sieg bei einer Unterhauswahl seit «Übermutter» Margaret Thatcher in den 1980er Jahren. Am 31. Januar wurde der EU-Austritt vollzogen.
Der Weg schien frei für Boris Johnsons Traum eines Global Britain, das befreit von den «Fesseln» der Europäischen Union mit aller Welt Handel treibt und eine glänzende Zukunft vor sich hat. Von dieser Euphorie ist kaum etwas geblieben. Selbst Johnsons innerparteiliche Kritiker räumen im «Guardian» ein, der Premier habe «ein höllisches Jahr» hinter sich.
Das betrifft ihn persönlich, aber auch den Zustand der Nation. Grossbritannien ist massiv von der Coronakrise und ihren wirtschaftlichen Folgen betroffen. Ein geregeltes Verhältnis mit der EU ist nicht in Sicht, mit China befindet man sich auf Kollisionskurs, und der Freihandelsvertrag mit den USA wurde auf die lange Bank geschoben. Aber der Reihe nach:
Wie viele andere erkannte Boris Johnson die Gefahr durch das Coronavirus zu spät. Er habe beim Besuch eines Spitals dem Personal die Hand geschüttelt, witzelte er. Heute ist Grossbritannien nach den Berechnungen der Johns Hopkins University mit fast 300’000 Infektionen und mehr als 45’000 Todesfällen das am stärksten versehrte Land in Europa.
Betroffen war auch der Premierminister. Er wurde positiv getestet und landete Anfang April auf der Intensivstation eines Londoner Spitals, wo er zeitweise mit Sauerstoff beatmet wurde. Wirklich in Lebensgefahr war Johnson wohl nie, aber seine Erkrankung war symptomatisch für ein Land, das sich nur mühsam aus dem Lockdown zurück kämpft.
Die Queen etwa befindet sich seit Monaten faktisch in Quarantäne auf Schloss Windsor. Am letzten Sonntag schloss Johnson in einem Interview einen zweiten Lockdown so gut wie aus. Er stellte eine weitgehende Normalisierung des Lebens bis Weihnachten in Aussicht. Wissenschaftler hingegen warnen vor einer zweiten Corona-Welle im Winter.
Formell ist das Vereinigte Königreich nicht mehr Mitglied der Europäischen Union, faktisch aber bleibt es während einer Übergangsfrist bis Ende 2020 Teil des Binnenmarktes und der Zollunion. Für die Zeit danach müsste das Verhältnis vertraglich neu geregelt werden, doch die Verhandlungen kommen seit Monaten nicht vom Fleck.
Die EU bietet ein umfassendes Handelsabkommen mit Zollfreiheit an, verlangt im Gegenzug aber die Einhaltung ihrer Umwelt- und Sozialstandards, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Das wollen die Briten nicht akzeptieren. Boris Johnson ist bislang kategorisch gegen eine Verlängerung der Übergangsfrist, zum Ärger vieler britischer Unternehmen.
Diese Woche verhandelten die beiden Seiten wieder in London. Teil des Problems ist offenbar das schwierige Verhältnis zwischen den Chefunterhändlern Michel Barnier und David Frost. Beobachter schliessen nicht aus, dass Boris Johnson am Ende nachgeben und zu einem Deal mit der EU bereit sein wird.
Zum Traum von einem Global Britain gehört ein Abkommen mit der Volksrepublik China, der zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt. Ein solches aber ist in weiter Ferne, zwischen den beiden Ländern ist vielmehr eine Art Eiszeit ausgebrochen. Der grösste Streitpunkt ist Chinas neues Sicherheitsgesetz für die einstige britische Kronkolonie Hongkong.
Es bedeutet nach Ansicht vieler Beobachter das Ende des Konzepts «Ein Land, zwei Systeme», das Peking im Übergabevertrag mit London bis 2047 zugesichert hatte. Weshalb Johnson bis zu drei Millionen Einwohnern von Hongkong die britische Staatsbürgerschaft anbietet. Diese Woche setzte er das Auslieferungsabkommen mit Hongkong aus.
Ausserdem sperrte die britische Regierung den Techkonzern Huawei vom Ausbau des 5G-Mobilfunknetzes aus. Dies auf Druck der USA, mit denen Grossbritannien in der sogenannten «Five Eyes»-Geheimdienstallianz verbunden ist. Washington wirft China vor, die Huawei-Technologie zu Spionagezwecken zu missbrauchen.
Die chinesische Regierung drohte mit «scharfen Gegenmassnahmen». Für Chris Patten, den letzten britischen Gouverneur von Hongkong, zeigt sich darin das Problem einer «mittelgrossen Macht», wie er der «New York Times» erklärte: «Die Gefahr besteht, dass wir eingeklemmt werden zwischen Präsident Trump und Präsident Xi.»
Donald Trump hat den Brexit begeistert unterstützt und Boris Johnson in den höchsten Tönen gelobt. Dieser hat sich nun klar zum Bündnis mit den USA bekannt. Zahlt sich das aus? Bislang nicht. Von einem Freihandelsabkommen noch in diesem Sommer könne keine Rede mehr sein, berichtete die «Financial Times» am Mittwoch.
Die britische Regierung habe auch die Hoffnung auf einen Deal bis Ende Jahr aufgegeben, schreibt die Zeitung. Als Begründung wurde die Covid-19-Pandemie genannt, doch es gibt auch inhaltliche Differenzen. Die Amerikaner wollen einen erleichterten Zugang zum britischen Lebensmittelmarkt, was bei Bauern und Bevölkerung auf Widerstand stösst.
Falls Trump die Präsidentschaftswahl gegen Joe Biden verlieren sollte, werden die Aussichten nicht besser. Biden ist stolz auf seine irische Herkunft, er wird die Interessen Irlands laut «New York Times» höher gewichten als jene Grossbritanniens. Das betrifft etwa das Karfreitagsabkommen von 1998, das den Frieden in Nordirland sichert und bei einem vertragslosen Zustand mit der EU gefährdet ist.
Der Traum von Global Britain kollidiert gerade heftig mit der Realität. In der britischen Regierung spricht niemand mehr von einem «Singapur an der Themse» mit tiefen Steuern und geringer Regulierung. Angesagt ist ein starker Staat, der sowohl die harte Sparpolitik von David Cameron beerdigt als auch den Neoliberalismus von Margaret Thatcher.
Denn die britische Wirtschaft leidet massiv unter der Pandemie und ihren Folgen. Befürchtet wird eine Massenarbeitslosigkeit wie in den 80er Jahren. Boris Johnson vergleicht sich nicht mehr mit Winston Churchill, sondern mit Franklin Roosevelt und seinem New Deal. Er will unter dem Motto «Bauen, bauen, bauen» fünf Milliarden Pfund in die Infrastruktur investieren.
Viel ist das nicht. Ohnehin stellen sich manche auf der Insel die Frage, ob die Regierung Johnson der Aufgabe gewachsen ist. Der Premier hat sein Kabinett weniger nach Kompetenz zusammengestellt als nach Loyalität und dem Bekenntnis zum Brexit. Für Unmut sorgt, dass er an seinem umstrittenen Berater Dominic Cummings festhält.
«Boris ist ein Schönwetter-Premierminister», sagte ein Tory-Abgeordneter dem «Guardian». Noch liegt seine Partei in den Umfragen vor Labour, aber deren neuer Vorsitzender Keir Starmer ist populärer als der Regierungschef. Gleiches gilt für Schatzkanzler Rishi Sunak, der mit seiner nüchternen Art einen Kontrast zum Luftibus Johnson bildet.
Manche sehen im indischstämmigen Finanzminister den ersten nichtweissen Premier in der Geschichte des Königreichs. Noch sitzt Boris Johnson fest im Sattel, dank seiner deutlichen Mehrheit im Unterhaus. Aber die Tories waren noch nie zimperlich im Umgang mit ihren Parteichefs. Das musste schon Margaret Thatcher erfahren.