Hol dir jetzt die beste News-App der Schweiz!
- watson: 4,5 von 5 Sternchen im App-Store ☺
- Tages-Anzeiger: 3,5 von 5 Sternchen
- Blick: 3 von 5 Sternchen
- 20 Minuten: 3 von 5 Sternchen
Du willst nur das Beste? Voilà:
Tom Cridland ist ein wirtschaftlicher Überflieger. Innerhalb von nur zwei Jahren hat er mit einem Startup-Darlehen der britischen Regierung von 6000 Pfund ein florierendes Unternehmen aufgebaut. Seine nachhaltig produzierte und sehr langlebige (30 Jahre Garantie) Männermode wird von Hollywoodstars wie Leonardo DiCaprio, Ben Stiller und Daniel Craig getragen.
Nun aber befürchtet der 25-jährige Brite das Schlimmste. Die Folgen eines Brexit könnten sein Unternehmen «zerstören», halten Cridland und seine Freundin und Geschäftspartnerin Deborah Marx in einem Schreiben an die europäischen Medien fest. Ihre Mode lassen sie in Portugal herstellen. Bei einem Austritt aus der EU und dem Binnenmarkt könnten Zölle auf den Import der Kleider fällig werden, die ihre Firma aus dem Geschäft drängen würden, erklären sie.
Ihren Gang an die Öffentlichkeit verstehen Cridland und Marx als Hilferuf, aber auch als Vorwurf an die Pro-EU-Kampagne: «Wir glauben nicht, dass sie leidenschaftlich genug geführt wird.» Das trifft den Nagel auf den Kopf. Die Befürworter des Verbleibs in der Europäischen Union um Premierminister David Cameron agieren defensiv und argumentieren technokratisch. Sie warnen in erster Linie vor den wirtschaftlichen Folgen des Austritts. Emotionen lassen sich damit nicht mobilisieren.
Den Anhängern des Brexit, angeführt vom früheren Londoner Bürgermeister Boris Johnson, gelingt das umso besser. Sie schüren Ängste vor der Zuwanderung und schrecken dabei auch vor Unwahrheiten nicht zurück, indem sie andeuten, der EU-Beitritt der Türkei stehe unmittelbar bevor. Gleichzeitig zeichnen sie das idyllische Bild eines Vereinigten Königreichs, das wirtschaftlich aufblühen werde, wenn es erst einmal von den europäischen «Fesseln» befreit wäre.
Die Kampagne verfehlt ihre Wirkung nicht, das Brexit-Camp befindet sich im Aufwind. Zwar darf man den Umfragen nicht trauen. Beim Schottland-Referendum vor zwei Jahren legten die Befürworter der Unabhängigkeit im Vorfeld des Urnengangs ebenfalls beständig zu, am Ende votierten die Schotten aber doch für den Verbleib im Königreich. Vielleicht werden auch die Warnungen von Tom Cridland und anderen Wirtschaftsvertretern ihre Wirkung nicht verfehlen.
Dennoch ist es möglich, dass sich die Briten am nächsten Donnerstag für «Leave» und nicht für «Remain» entscheiden werden. In Brüssel rauft man sich die Haare. EU-Ratspräsident Donald Tusk warnte vor «unvorhersehbaren politischen und geopolitischen Konsequenzen» für den Fall, dass Grossbritannien die Union verlassen sollte. Ein solcher Schritt könnte eine Kettenreaktion auslösen und andere Mitgliedsländer zu ähnlichen Abstimmungen motivieren.
Europas Rechtspopulisten, die ohnehin Rückenwind verspüren, reiben sich bereits die Hände. Dies ist symptomatisch für den aktuellen Zustand der EU. Niemand scheint derzeit gewillt, das europäische Einigungsprojekt leidenschaftlich zu verteidigen. Euro- und Flüchtlingskrise strapazieren den Zusammenhalt der EU und verleihen jenen Kräften Auftrieb, die die Nestwärme des Nationalstaats beschwören und wieder Schlagbäume an den Grenzen aufrichten wollen.
Wird der Brexit also zum Spaltpilz der EU? Nicht unbedingt. Ein Austritt der eigenbrötlerischen Insulaner könnte im Gegenteil eine Chance sein für Europa. Wer nicht die Brille der EU-Phoriker und Euromantiker trägt, muss zugeben: Die EU hat in ihrer heutigen Form Konstruktionsfehler. Die Einigung Europas wurde als Eliteprojekt konzipiert und durchgezogen. Der Idee einer «immer engeren Union der Völker Europas», wie es im Vertrag von Maastricht 1992 festgehalten wurde, fehlt die Bodenhaftung bei den besagten Völkern. Die aktuellen Krisen zeigen dies deutlich.
Die heutige EU ist eine Schönwetterunion. Schlimmer noch: Sie ist das geworden, was sie nach dem Willen ihrer Gründer niemals sein sollte – ein Gebilde, das von Deutschland dominiert wird. Eine Rolle, mit der sich das grösste Mitgliedsland aus historischen Gründen schwer tut und die sie gleichzeitig gegenüber den verschuldeten Euroländern – namentlich Griechenland – rücksichtslos ausspielt. Daraus entstehen Ressentiments, gegenüber Berlin und Brüssel.
Es lässt sich nicht bestreiten, dass die EU unter einem Demokratiedefizit leidet. Dies wird nicht nur von rechter Seite beklagt, sondern auch von Linken wie dem früheren griechischen Finanzminister Yannis Varoufakis. Er hat zu Beginn des Jahres mit Mitstreitern das Netzwerk «Democracy in Europe Movement 2025» gegründet. Varoufakis will damit den wachsenden Nationalismus bekämpfen und den «Zerfall Europas» aufhalten.
Dazu könnte paradoxerweise der Austritt der Briten beitragen, indem er zur Initialzündung wird für eine demokratischere und bürgernähere EU, über die seit Jahren geredet wird. Statt einer «immer engeren» könnte eine flexiblere Union entstehen, ein Europa mit mehreren Geschwindigkeiten. Im Grundsatz existiert es schon heute, gerade die Briten erfreuen sich einiger Ausnahmeregeln. Sie haben den Euro nicht übernommen und sind nicht Mitglied von Schengen/Dublin.
Im Idealfall wird nach einem Brexit ein Reformruck durch Europa gehen. Gleichzeitig könnten die Briten bald realisieren, dass ihre Splendid Isolation gar nicht so splendid ist. Sollte Boris Johnson David Cameron als Premierminister beerben, könnte er in absehbarer Zeit eine neue Abstimmung durchführen, mit der die Briten auf ihren Austrittsentscheid zurückkommen könnten. Bis vor nicht allzu langer Zeit war der exzentrische Blondschopf noch ein Gegner des Brexit.
So weit das rosige Szenario. Allerdings könnte es auch ganz anders kommen. Europa zerfällt und wird zum Spielball der Grossmächte USA, China und Indien. Grossbritannien stürzt in eine tiefe Wirtschaftskrise, weil in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts niemand auf ein ehemaliges Imperium gewartet hat, das geistig immer noch der längst verblichenen Grösse anhängt.
Das Wirtschaftsmagazin «The Economist» hält es unmissverständlich fest: «Wenn Britannien die EU verlässt, dürfte es ärmer, weniger offen und weniger innovativ werden.» Und statt seine globale Bedeutung wiederzuerlangen, werde das Land weniger einflussreich und provinzieller. So etwas möchte man dem Modeunternehmer Tom Cridland und seinen Landsleuten nicht wünschen.
Auch aus der Perspektive der Schweiz ist ein Brexit keine so gute Idee. Er könnte eine Einigung mit der EU bei der Personenfreizügigkeit erschweren und einen neuen «Frankenschock» auslösen. Dies wäre Gift für viele Unternehmen, nicht zuletzt KMU, die schon heute mehr oder weniger von der Substanz leben. Deshalb hofft man irgendwie doch, dass die Briten sich auf ihren sprichwörtlichen Pragmatismus besinnen und für den Verbleib in der EU stimmen werden.
Vielleicht wird es so kommen, wie es der streitbare Wirtschaftshistoriker und EU-Befürworter Niall Ferguson in der «NZZ am Sonntag» prognostiziert hat: «Es wird ein sehr knapper Sieg für die Gegner des EU-Austritts, mit zwei, drei Prozentpunkten Unterschied. Und ganz Europa wird eine wichtige Lektion gelernt haben.» Wenn die EU und ihre 28 Mitgliedsstaaten unabhängig vom Ergebnis die Notwendigkeit von Reformen erkennen, hätte das Brexit-Drama einen Sinn gehabt.