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Interview

«Ukrainer werden die Offensive nutzen, um mehr Gebiete zurückzuerobern»

Kupjansk
Bild: Screenshot Twitter
Interview

«Das war ein ausgezeichnetes Täuschungsmanöver der Ukrainer»

Strategie-Experte Marcel Berni erklärt, was die Rückeroberungen der Ukraine für Russland bedeuten. Zudem schätzt Berni ein, welche Optionen Putin übrig bleiben, um keine Niederlage bekannt zu geben – obwohl er von einem Sieg meilenweit entfernt ist.
13.09.2022, 06:2713.09.2022, 11:17
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Herr Berni, die ukrainische Armee konnte in den letzten Tagen viele Gebiete mit strategisch wichtigen Städten zurückerobern. Wie war das möglich?
Marcel Berni:

Die Ukrainer konnten den Druck im Nordosten massiv ausbauen, indem sie mit hohem Tempo vorgegangen sind, was die Russen nicht erwartet haben. Das Zusammenspiel aus mechanisierten Verbänden, Soldaten mit gepanzerten Fahrzeugen und der zu Fuss kämpfenden Infanterie hat die Russen überrascht – gleichzeitig mit dem Ablenkungsmanöver.

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Sie sprechen es an: Die Ukraine hat ursprünglich eine grosse Gegenoffensive im Süden angekündigt. Nun aber im Osten angegriffen. Weshalb?
Das war ein ausgezeichnetes Täuschungsmanöver der Ukrainer, vorab von einem Angriff im Süden zu sprechen und dann parallel dazu im Nordosten anzugreifen. Mit dieser Taktik haben die Gegner nicht gerechnet.

Kann man von einer grossen Schlappe für die russische Armee sprechen?
Ja, definitiv.

Obwohl die Russen die Rückeroberung mit einem Unterbruch der Strom- und Wasserzufuhr gerächt haben?
Das war ein Vergeltungsangriff, worin die Russen Spezialisten sind. Gleichzeitig ist es eine Verzweiflungstat. Man möchte zeigen, dass man noch da ist und zuschlagen kann. Solche Angriffe werden sich noch häufen, aber sie sind nicht effektiv. Getroffen wird vor allem die Zivilbevölkerung. Damit nährt sich der Widerstandswille gegen die Russen.

Berichten zufolge hatten die russischen Streitkräfte die Gebiete fast kampflos preisgegeben. Wächst die Kriegsmüdigkeit der Russen?
Das spielt sicher eine grösser werdende Rolle, denn die Russen kämpfen nicht um ihr eigenes Land. Putins Front in der Ukraine wird dadurch auch immer weiter zurückgeschlagen. Es stellt sich nun die Frage, ob die Ukrainer das Momentum ausnutzen werden, oder ob sie eine Pause machen, um ihre zurückgewonnenen Gebiete zu stabilisieren.

«Es wird noch zu sehr grossen Gefechten im Donbass kommen.»
Marcel berni
Marcel BerniBild: zvg
Zur Person
Dr. Marcel Berni studierte von 2008 bis 2013 Geschichte, Politikwissenschaft und Ökologie an der Universität Bern. Seit 2014 forscht und lehrt er als wissenschaftlicher Assistent an der Dozentur Strategische Studien der Militärakademie an der ETH Zürich. 2019 promovierte er mit einer Arbeit über kommunistische Gefangene im Vietnamkrieg an der Universität Hamburg. Die Studie, die im Herbst 2020 in überarbeiteter Form erschienen ist, gewann den André-Corvisier-Preis für die beste militärhistorische Dissertation. Im Jahr 2022 vertritt er die Dozentur Strategische Studien in Forschung und Lehre.

Was denken Sie, werden die Ukrainer machen?
Ich glaube, die Ukrainer werden die Offensive nutzen, um noch mehr Gebiete zurückzuerobern. Sie haben bemerkt, dass sie die Russen überraschend in die Flucht treiben können, und werden darauf aufbauen.

Kann man bereits von einem «vollständigen Zusammenbruch» der russischen Armee sprechen?
Das sehe ich noch nicht, insbesondere nicht im Donbass und im Süden. Dort leisten die Russen noch erbitterte Gegenwehr.

Putin wird also noch an seinem «Traum» von der Eroberung des Donbass festhalten?
Im Moment haben die Russen noch die Mehrheit des Donbass-Gebiets unter ihrer Kontrolle, weshalb die Eroberung theoretisch noch möglich ist. In der Praxis beschäftigen Putins Armee aber viele strukturelle Probleme.

epa10170086 Russian President Vladimir Putin takes part in a ceremony to open new and reconstructed transport network sections in several regions, including the M12 and M5 motorways, as well as the Ye ...
Wurde von den Ukrainern überrascht: der russische Präsident Wladimir Putin. Bild: keystone

Die da wären?
Sie können keine Soldaten mehr nach Hause schicken, weil nicht genügend nachkommen. Einige verlassen die Kriegsgebiete aus Eigeninitiative. Und abgesehen davon, dass die Soldaten müde werden, kann auch die russische Industrie nicht schnell genug Kriegsgüter und Munition nachproduzieren und liefern. Ich denke, mittelfristig wird es daher noch zu sehr grossen Gefechten im Donbass kommen.

Die Russen werden es aber schwieriger haben, jetzt, wo sie wichtige belagerte Städte verloren haben.
Das stimmt absolut! Vor allem haben die Ukrainer mit der Stadt Kupjansk die Hauptverkehrsachse für Züge wieder gesichert. Dadurch können die Russen sich an vielen Orten nur noch auf den Strassen fortbewegen, was für ihre Logistik ein Problem darstellt.

Inwiefern?
Ein Grossteil der russischen Kriegslogistik ist auf Züge angewiesen. Ohne die Eisenbahnlinien dauert es viel länger, alles zu transportieren. Somit sind die Russen auch anfälliger für einen weiteren Gegenangriff. Die Ukrainer haben jetzt einen Stachel im russischen Fleisch, den sie nutzen werden.

«Eine Massenmobilisierung wäre keine militärische Sonderoperation mehr, sondern ein offizieller Krieg.»

Putin hat den Rückzug aus den strategisch wichtigen Gebieten von Isjum als «Umgruppierung» bezeichnet. Was meint er damit?
Das ist klare Propaganda. Putin kann sich selbst und der Bevölkerung nicht eingestehen, dass er überrascht wurde. Doch in diesem Informationskrieg möchte er das nicht zugeben. Es stellt sich nun die Frage, was Putin daraus lernt – schliesslich hatte er über lange Zeit die Prämisse, den Krieg mit der Zeit auf seiner Seite zu gewinnen.

Strategisch wichtige Stadt Kupjansk zurückerobert: Ukrainische Truppen überrennen russische besetzte Gebiete im Osten
Von den Ukrainern zurückerobert: die strategisch wichtige Stadt Kupjansk.Bild: Screenshot Twitter/yarotrof

Welche Optionen bleiben ihm?
Mir kommen da nur drei Möglichkeiten in den Sinn. Erstens könnte er das dritte russische Armeekorps aufbieten. Dies ist eine der bestausgerüsteten Einheiten und aktuell in Moskau stationiert. Putin könnte aber auch eine General-Mobilmachung mit vielen Soldaten starten, um seine Ziele in der Ukraine doch noch zu erreichen. Damit wäre es jedoch keine militärische Sonderoperation mehr, sondern ein offizieller Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Und die dritte Möglichkeit wäre ein Eingriff mit Atomwaffen, was ich aber nicht erwarte.

Hat der russische Präsident noch den Rückhalt des Landes oder wächst der Druck auf ihn, den Krieg zu beenden?
Die Opposition in Russland wird sicher steigen und viele werden versuchen, den Krieg in der Ukraine als Putins Privatprojekt darzustellen, um ihn zu schwächen. Vielleicht wird er aber auch versuchen, die bisherige Kriegsentwicklung als Erfolg zu präsentieren.

Wie soll ihm das nach den neusten Entwicklungen gelingen?
Das wird schwierig, denn erreicht hat er bisher das Gegenteil seiner Ziele. Aus der Demilitarisierung der Ukraine wurde nichts – noch nie war die Armee im Land so stark. Auch dem Nationalismus konnte er nicht entgegenwirken – er hat den Patriotismus der Ukrainer sogar noch verstärkt. Sogar sein drittes Ziel, die Nato weiter weg von seinen Grenzen zu bringen, ist misslungen – weil Schweden und Finnland als mögliche Nato-Kandidaten aufgenommen wurden. Russland hat bisher eine klare Niederlage gegenüber dem Anfangszustand eingefahren.

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51 Kommentare
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Gandalf-der-Blaue
13.09.2022 06:35registriert Januar 2014
Auch wenn man sich ob des genauso entschlossenen wie überraschenden Vorrückens der Ukraine noch immer etwas verwundert die Augen reibt: Der Westen muss alles tun, um dieses Vorrücken der Ukrainer zu unterstützen und nach Möglichkeit zu beschleunigen. Solange die Ukraine vorrückt und die Russen fliehen müssen, haben sie keine Chance sich irgendwo festzusetzen und zu sammeln. Und solange die Ukraine vorrückt wird es keine starre Front geben können, denn mit jedem Meter lassen die Russen mehr wertvolles Kriegsmaterial zurück. Ich drück der Ukraine die Daumen und hoffe, dass das klappt!
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Jo Kaj
13.09.2022 07:03registriert Juli 2019
"Russland hat bisher eine klare Niederlage gegenüber dem Anfangszustand eingefahren."

Die Ukraine muss weiter unterstützt werden. Der Zusammenhalt innerhalb der EU muss beständig bleiben. Es darf nicht von diesem Richtungskurs losgelassen werden.
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Hierundjetzt
13.09.2022 07:48registriert Mai 2015
So, endlich mal gute Nachrichten von der Front!

Sieht man auch an den Argumenten der Leningrader „Fabrik“

Ja aber die Ukrainer hätten 0 Schangse wenn der Westen nicht helfen würde.

Nord Korea hilft ja Russland auch mit Munition! Also…

Fun Fact: der russischen Staatsbahn gehen wegen den Sanktionen die Kugellager aus, 1000ende von Güterwagen sind unbrauchbar. Kohle kann nicht mehr nach China versendet werden, Munition und Panzer nicht mehr an die Front.

*Sanktionen wirken*
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