Die humanitäre Situation im Gaza-Streifen ist weiterhin dramatisch. Nach zweieinhalb Monaten Blockade lässt Israel seit dem 19. Mai wieder Lieferungen zu. Deren Verteilmodus – über eine private Stiftung und bewacht von privaten US-Sicherheitskräften – wird von der UNO und mehreren Staaten scharf kritisiert, ebenso wie die jüngste Grossoffensive der israelischen Armee.
Am Dienstag hat Israels Botschafterin in Bern mit CH Media über die Lage in Gaza gesprochen.
Frau Botschafterin, letzte Woche wurden zwei israelische Diplomaten in Washington auf offener Strasse ermordet. Wie geht es Ihnen und Ihren Kolleginnen und Kollegen weltweit?
Ifat Reshef: Wir sind zutiefst erschüttert. Ich habe Yaron Lischinsky und Sarah Milgrim nicht persönlich gekannt, aber laut meinen Kollegen waren sie ein warmherziges, engagiertes junges Paar. Sie wurden einzig und allein dafür getötet, dass sie für die israelische Botschaft arbeiteten und an der Veranstaltung einer jüdischen Organisation teilnahmen. Das zeigt, wie gefährlich die aktuelle Propaganda und Hassrede gegen Israel und Israelis ist – die immer mehr auf Jüdinnen und Juden weltweit übergreift. Diese Tat zeigt, dass Worte töten können.
War dieser Mord in Ihren Augen also eine direkte Folge von Antisemitismus und Kritik an Israel?
Kritik an Israel ist legitim – aber das hier ist keine Kritik. Es geht um eine gezielte Anstiftung, die Menschen radikalisiert. Israel befindet sich seit dem Hamas-Terrorangriff in einer äusserst schwierigen Situation. Den Krieg in Gaza haben wir nicht begonnen, und wir haben ihn uns nicht gewünscht. Wir sehen, dass Menschen, die ohnehin eine Agenda gegen Israel haben, seither eine weltweite Propagandawelle gestartet haben. Der Täter in Washington rief ‹Free Palestine›. Der Slogan wird heute oft benutzt, um Gewalt zu rechtfertigen. Diese Ideologie wird über soziale Medien, Universitäten und Aktivisten verbreitet – und sie ist gefährlich. Es geht nicht um Meinungsäusserung, sondern um Hetze.
Am letzten Samstag zog eine unbewilligte propalästinensische Demonstration, an der es teilweise zu Gewalt gekommen ist, an der Synagoge in Bern vorbei. Tut die Schweiz genug, um ihre jüdischen Bürgerinnen und Bürger zu schützen?
Ich glaube, dass die Schweiz sich sehr bemüht, ihre Bürger zu schützen – das sollte die jüdischen Gemeinden selbstverständlich mit einschliessen. Aber wie überall wächst die Bedrohung, weil Antisemitismus nun oft auch unter dem Deckmantel vermeintlicher Israelkritik auftritt. Wir müssen deshalb alles tun und erkennen: Wer antisemitische Slogans verbreitet, trägt Verantwortung für die Eskalation und dafür, dass Menschenleben in Gefahr geraten.
Lassen Sie uns über die Situation in Gaza sprechen. Bis letzte Woche hatte Ihre Regierung während elf Wochen keinerlei Hilfsgüter in den Gaza-Streifen gelassen. Seither sind sie über eine umstrittene amerikanische Stiftung wieder angelaufen. Gemäss der Weltgesundheitsorganisation ist die Lage in Gaza katastrophal. Grosse Teile der Bevölkerung, inklusive Kinder, leiden unter Mangelernährung. Weshalb lässt Israel die Zivilbevölkerung absichtlich hungern?
Wir lassen die Bevölkerung nicht hungern und würden das niemals absichtlich tun. Israel hat die Lieferungen im März gestoppt, nachdem während des 42-tägigen Waffenstillstands über 25'000 Hilfstransporte mit Lastwagen in den Gaza-Streifen gelangt waren. Diese Feuerpause hat geendet, weil die Hamas sich weigerte, weitere Geiseln freizulassen, und auf Bedingungen bestand, die darauf abzielen, ihre Herrschaft über den Gaza-Streifen und seine Bevölkerung aufrechtzuerhalten und Israel weiterhin militärisch zu bedrohen. In Gaza lagerten mehr als genug Hilfsgüter, um die Bevölkerung ausreichend zu ernähren.
Aber?
Die Hamas plünderte diese systematisch und brachte sie unter ihre Kontrolle. Anschliessend verteilte sie sie an die eigenen Kämpfer oder verkaufte sie zu überhöhten Preisen an die Bevölkerung, um so einen Profit zu machen und sich weiter bewaffnen zu können. Als wir festgestellt haben, dass die Lage in Gaza kritisch wird, haben wir die Lieferungen wieder aufgenommen. Wir müssen aber das System verändern, damit die Güter die Bevölkerung jetzt erreichen werden und nicht der Hamas helfen. Etwas geht leider oft vergessen.
Was?
Ich wünschte mir, diejenigen, die uns kritisieren, würden auch die Rolle der Hamas kritisieren. Wir haben einen Krieg, in dem sich eine Demokratie seit dem brutalen Angriff der Hamas vor 600 Tagen gegen eine bösartige, fanatische Terrororganisation verteidigt, die unser Land zerstören will. Trotzdem herrscht das Narrativ vor, in dem Israel immer als Täter dasteht – selbst wenn es der einzige Akteur ist, der in beispielloser Weise und Grössenordnung humanitäre Hilfe für die Bevölkerung des Feindes zulässt. Während deren eigene Regierung – die Hamas – sich nicht um sie kümmert und bereit ist, das eigene Volk zu opfern.
Israel wird auch von eigentlich wohlwollender Seite kritisiert: von Deutschland, der Trump-Regierung, auch vom Dachverband der jüdischen Gemeinden in der Schweiz. Ist das etwa alles Anti-Israel-Propaganda?
Nein, der Aufruf an Israel, mehr zu tun, ist keine Propaganda. Israel möchte mehr tun und setzt alles daran, genau das zu erreichen. Leiden Menschen in Gaza? Natürlich leiden Menschen, es ist ein Krieg. Doch wir dürfen nicht die Natur unseres Gegners vergessen: Die Hamas hat ein Interesse an schrecklichen Bildern aus dem Gaza-Streifen, welche die Realität verzerren. Deshalb plündert sie Hilfsgüter, deshalb verstecken sich ihre Kämpfer in Schulen, Moscheen, Spitälern und Flüchtlingslagern. Deshalb foltert und erschiesst sie ihre eigenen Bürger. Dieser Krieg könnte morgen vorbei sein, wenn die Hamas aufgibt und die Geiseln freilässt.
Viele Angehörige der Geiseln kritisieren die Regierung von Benjamin Netanyahu dafür, sich nicht ernsthaft für die Freilassung der Geiseln einzusetzen.
Es ist unsere heilige Pflicht, sowohl die noch lebenden Geiseln als auch die Leichen der Verstorbenen nach Hause zu bringen. Gleichzeitig kann die Regierung nicht zulassen, dass die Hamas überleben und uns in Zukunft weiterhin militärisch bedrohen kann. Das ist eine enorm schwierige Aufgabe: den Ausgleich zwischen diesen beiden zentralen Zielen zu finden. Dass es Kritik an der Regierung gibt, zeigt, dass Israel eine freie Demokratie ist. Und dass wir mit nahezu unlösbaren Dilemmata und Entscheidungen konfrontiert sind, auf die es keine einfachen Antworten oder Lösungen gibt.
Was ist der Plan Israels für den Tag, an dem der Krieg zu Ende ist?
Wir sind vom Hamas-Terrorangriff am 7. Oktober 2023 völlig überrascht worden. Das war ein grosses Versagen unsererseits. Es gab deshalb keinen fertigen Plan, den wir aus der Schublade ziehen könnten. Seither sind wir von den anderen iranischen Stellvertretern, der Hisbollah, den schiitischen Milizen im Irak, von den Houthis im Jemen und vom Iran selbst angegriffen worden. Die Situation ist enorm komplex. Klar ist: Wir können nicht zum Status quo ante zurückkehren.
Wie soll die Zukunft denn aussehen?
Wir brauchen Partner, die mit Israel in Frieden leben wollen und Terrorismus auf keine Art unterstützen. Doch die Hamas toleriert keinerlei politische Alternativen in Gaza. Wie lange der Krieg dauern wird und wie die Zukunft Gazas aussieht, hängt stark vom Verhalten der Hamas ab. Bisher handelt sie so, als ob sie den Krieg verlängern will, statt sich zu entwaffnen, die Geiseln freizulassen und den Krieg so zu beenden.
Ihre Regierung hat letzte Woche einen Plan bewilligt, um den Gaza-Streifen vollständig unter Kontrolle des israelischen Militärs zu bringen. Gemäss internen Dokumenten soll die Bevölkerung in drei kleinen Sicherheitszonen konzentriert werden. Kritiker sprechen von ethnischer Säuberung.
Ich weise diesen Vorwurf kategorisch zurück. Solche Begriffe sind Teil der Anti-Israel-Propaganda. Was das Kabinett beschlossen hat, ist die nächste Phase der temporären militärischen Operationen, kein Plan für den «Tag danach». Es geht darum, dass die israelische Armee die Terrorinfrastruktur, welche die Hamas in ganz Gaza unterhält, effektiver zerstören kann. Wir wollen besser unterscheiden können zwischen Schutzgebieten für die Zivilbevölkerung, wo wir sie mit Hilfsgütern versorgen können, und den Gebieten, wo wir gegen die Hamas, ihre Kämpfer und ihre Infrastruktur vorgehen können.
In der israelischen Regierung sitzen rechtsextreme Minister, die sich offen für die Vertreibung der Zivilbevölkerung aus Gaza und den Wiederaufbau von israelischen Siedlungen aussprechen. Hat das einen Einfluss darauf, in welcher Art und mit welchen Zielen die Armee in Gaza operiert?
Zunächst: Ich bin Diplomatin. Innenpolitische Angelegenheiten sind den Bürgerinnen und Bürgern Israels überlassen. Es gibt verschiedene Vorstellungen darüber, wie die Sicherheit Israels angesichts einer solchen Bedrohung, wie wir sie aus Gaza erfahren haben, gewährleistet werden kann.
Und diese extremen Stimmen haben keinen Einfluss auf die Armee?
Entscheidend sind nicht die Äusserungen von einzelnen Politikern, sondern was von der Regierung Israels beschlossen und vom Premierminister vertreten wird. Noch einmal: Wir führen einen Kampf gegen eine bösartige Terrororganisation, die gegen jedes bekannte Prinzip des Völkerrechts und alle anerkannten menschlichen Werte verstösst. Unsere Armee ist sehr professionell. Sie folgt den Befehlen, operiert mit grösstmöglicher Zurückhaltung und hält sich an internationales und an israelisches Recht. Verstösse nehmen wir sehr ernst und untersuchen sie gründlich.
Es gibt aber zahlreiche Hinweise auf mögliche Kriegsverbrechen. Ein Beispiel: Die «New York Times» hat ein Video verifiziert. Es zeigt, wie israelische Soldaten am 23. März 2025 Sanitäter des Roten Halbmonds bei Rafah aus der Nähe erschiessen, obwohl sie in einer Ambulanz mit Sirenen unterwegs und klar als Rettungskräfte erkennbar waren. Die israelische Armee bestritt die Vorwürfe zunächst vehement und sprach von einem verdächtigen Fahrzeug. Später zog sie diese Darstellung zurück. Das widerspricht Ihren Beteuerungen.
Es gibt viel Kritik an Israel von sogenannten Menschenrechtsexperten. Was auffällt: Sie sind sehr wählerisch, welche Menschenrechte sie verteidigen und wen sie dabei kritisieren. Von Experten für Militäroperationen, die selber in Kriegsgebieten waren, erhalten wir hingegen Lob dafür, wie die israelische Armee in Gaza, einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt, operiert.
Sie weichen aus. Ich möchte wissen, weshalb israelische Soldaten wehrlose Sanitäter erschossen haben.
Wenn Sie einfache Antworten wollen auf komplexe Fragen, dann kann ich Ihnen nicht helfen. Ich versuche den Kontext zu schildern, in dem der Vorfall passiert ist. Unter Ihrem oder meinem Schreibtisch kann nicht einfach plötzlich jemand hervorspringen und auf uns schiessen. Deshalb versuche ich, demütig zu bleiben. Und nicht vorschnell über Menschen zu urteilen, die schon so lange in einer extrem gefährlichen Umgebung kämpfen und nie wissen, von wo der nächste Angriff kommen wird.
Frau Botschafterin, ich bin Journalist in der Schweiz. Natürlich befinde ich mich nicht in einer Kampfzone. Das ist ein absurder Vorwurf.
Nein, das ist kein Vorwurf. Ich versuche nur, den Kontext zu erklären. Die Realität unserer Soldaten in Gaza ist, dass die Gefahr überall lauert. Jedes Haus kann vermint sein. Alles, was harmlos aussieht, könnte ein Hinterhalt sein. Unsere Soldatinnen und Soldaten sind aus Ambulanzen beschossen worden, von Hamas-Kämpfern, die sich als Zivilisten oder Helfer verkleidet haben. Die Route, auf der dieser Vorfall passiert ist, war bekannt als Ort, an dem die Hamas Hinterhalte legt. Das ist die Realität. Unsere Soldaten sind Profis. Sie werden im Völkerrecht geschult und ständig dazu angehalten, sich daran zu halten. Aber man muss auch bedenken, dass sie seit Monaten dort sind – müde, erschöpft, ständig in Gefahr.
Weshalb hat die israelische Armee den Vorfall zunächst falsch dargestellt?
Nach einem solchen tragischen Vorfall werden sofort Antworten verlangt. Aber diese liegen nicht immer gleich vor. Die betroffenen Soldaten und Offiziere sind vielleicht noch im Einsatz, können nicht umgehend befragt werden. Als der Bericht der «New York Times» erschienen ist, hat der Generalstabschef sofort eine neue Untersuchung angeordnet, weil ihm die ursprüngliche nicht gründlich genug war. Wir nehmen solche Vorfälle sehr ernst. Wir tolerieren keine Verstösse gegen internationales oder israelisches Recht. Wir greifen keine Hilfsorganisationen absichtlich an. Wir greifen keine Zivilisten absichtlich an. Jeder solcher Fall ist eine Tragödie. Aber ich persönlich bin vorsichtig, unsere Soldaten aus der Ferne vorschnell zu verurteilen – angesichts der unmöglichen Bedingungen, unter denen sie kämpfen müssen.
Vor zwei Jahren spaltete eine geplante Justizreform der Regierung Netanyahu die israelische Gesellschaft tief. Dann kamen der Hamas-Terrorangriff und der Krieg in Gaza. Wie geht es Ihrem Land heute?
Israel durchlebt eine sehr herausfordernde und sehr schmerzhafte Zeit. Es sterben weiterhin Soldaten in Gaza, es gibt weiterhin Raketenangriffe, wir warten weiterhin auf die sichere Rückkehr der verbliebenen Geiseln. Gleichzeitig ringen wir als Gesellschaft um eine neue Form der demokratischen Repräsentation. Wir diskutieren über das Ausmass und die Art der Reformen, die notwendig sind, um die verschiedenen Teile unserer Gesellschaft besser in die Entscheidungsprozesse unseres Systems einzubeziehen. Wir tun das auf sehr israelische Weise: sehr laut und manchmal nicht ganz höflich. Es gibt Proteste – und Gegenproteste. Das ist manchmal schmerzhaft, aber ein wichtiger Prozess. Ich weiss nicht, was dabei herauskommen wird. Das muss die israelische Gesellschaft entscheiden. Aber ich bin stolz darauf, wie wir das trotz des Kriegs aushalten und als Demokratie funktionieren.
Im Sommer verlassen Sie die Schweiz nach vier Jahren als Botschafterin in Bern. Was werden Sie von dieser Zeit mitnehmen?
Die Schweiz ist ein grossartiges Land. Ich habe grossen Respekt für die Schweiz und ihre Gesellschaft entwickelt. Wie die israelische ist sie sehr heterogen mit ihren verschiedenen Sprachen und Kulturen. Sie hat ein bemerkenswertes Modell des Zusammenlebens geschaffen. Ausserdem konnte ich wunderbare Freundschaften knüpfen, die weiterbestehen werden.
Würden Sie lieber in der Schweiz bleiben, statt nach Israel ins Krisengebiet zurückzukehren?
Ich war stolz, Israel in den Zeiten des Kriegs in der Schweiz zu vertreten und meinen kleinen Teil beizutragen. Aber es ist immer gut, nach Hause zu kommen. Ich habe auch Schuldgefühle, nicht dort zu sein – bei meinen Freunden und meiner Familie. Nicht bei ihnen zu sein, wenn täglich die Sirenen heulen wegen der ständigen Raketenangriffe. Es waren vier wunderbare Jahre in der Schweiz – nicht einfach, aber wunderbar. Jetzt ist es Zeit, zurückzukehren. Und ich bin froh, dass ich das tun kann.
(aargauerzeitung.ch)
Fakt ist:
- Israel will keine Zweistaaten-Lösung
- seit Jahrzehnten besiedelt Israel Gebiete, die sie nicht dürfte
- täglich verübt Israel Kriegsverbrechen in Gaza
Andere Länder würden die Hamas effizienter und mit massiv weniger Kollateralschaden bekämpfen.
Das zeigt die Verlogenheit der Bibi-Regierung.
Was dabei fehlt: die fortgesetzte Blockade, die systematische Zerstörung ziviler Infrastruktur, das Verhindern von UN-Hilfe, die verharmlosten Kriegsverbrechen. All das verschwindet im Ton staatstragender Betroffenheit.