Sie waren gestern für eine
Reportage in Jerusalem, wie hat sich die Stadt und ihre Bevölkerung
einen Tag vor der Einweihung der US-Botschaft präsentiert?
Joëlle Weil:
In Jerusalem ist alles immer normal, die Menschen dort kann
eigentlich nichts erschüttern. Auch wenn es in Jerusalem oder in der
Umgebung Ausschreitungen gibt, bleiben die Bewohner Jerusalems
stressresistent. Derzeit herrscht absoluter Alltag.
800 geladene Gäste nahmen heute an
der Feier teil, Hunderte Sicherheitskräfte sind zusätzlich postiert
worden im Botschaftsquartier im Süden der Stadt.
Ja, in unmittelbarer
Nachbarschaft der Botschaft wurden heute auch für die Anwohner
gewisse Strassen gesperrt. Aber ich habe mich problemlos mit dem Auto
durch Jerusalem bewegt, ich musste nicht einmal die Scheiben
herunterlassen, als ich durch den Westbank-Checkpoint in die Stadt
gefahren bin.
Sie wohnen in Tel Aviv, reisen für
Recherchen regelmässig durch Israel. Wie ist die Stimmung im Rest
des Landes?
Man ist sich das
ja alles gewohnt. Im Grossen und Ganzen ist man nicht erschüttert.
Die Auseinandersetzungen in Gaza sind in ihrer Intensität zwar
ungewöhnlich, generell sind Unruhen dort aber nichts Neues. Das
Gleiche gilt für das Westjordanland und Ost-Jerusalem. Irgendeine
Form von Konflikt ist ja immer latent vorhanden in Israel.
Seit Ende März sind an der
Gaza-Grenze mehr als 80 Menschen getötet und Tausende verletzt
worden, alleine am Sonntag und am Montag wurden über 50 Demonstranten
getötet. Das ist doch mehr als ein latenter Konflikt.
Ob die Reaktionen
der israelischen Armee in ihrer Härte gerechtfertigt sind, ist ein
Thema, das derzeit unter der israelischen Bevölkerung besprochen
wird, auch wenn eine deutliche Mehrheit diese für gerechtfertigt
haltet.
Also sind die Spekulationen über
eine dritte Intifada nichts anderes als das: Spekulationen?
Eine mögliche
dritte Intifada wird immer wieder von den Israelis herbeibeschwört
oder von den Palästinensern angedroht. Auch letzten Dezember, als
die Trump-Regierung die Verlegung der Botschaft verkündigte, war die
Stimmung sehr aufgeheizt. Auch da sprach man von dem Beginn der
dritten Intifada.
Trotz dem 70. Jahrestag der Gründung
Israels, trotz der Botschaftsfeier, trotz der Nakba, der grossen
Katastrophe, mit derer die Palästinenser am Dienstag dem Verlust
ihrer Heimat gedenken?
Nakba findet
jedes Jahr statt und jedes Jahr gibt es grosse Demonstrationen und
Kundgebungen. Klar kommen dieses Jahr mehrere Ereignisse zusammen,
aber alles in allem glaube ich nicht, dass es dieses Mal zu einer langanhaltenderen Eskalation, zu einem Flächenbrand von ganz anderem
Ausmass kommen wird.
In der vergangenen Woche spitzte sich der Konflikt zwischen Israel und dem Iran zu. Wie erlebten die Menschen in Israel diese Tage?
Mittlerweile
hat sich die Stimmung unter den Israelis wieder etwas beruhigt, aber
während der letzten Wochen war die Stimmung doch etwas angespannter.
Jede neue Mitteilung über Operationen auf iranische Stützpunkte in
Syrien oder auch die 20 Raketen, die mutmasslich von iranischen
Stützpunkten nach Israel abgefeuert wurden, heizten die
Spekulationen über einen möglichen Krieg an.
Noch im
Dezember lag Netanjahu in der Gunst der Wähler ganz tief: Ein
Korruptionsskandal erschütterte das Vertrauen der Bevölkerung in
den Premierminister massiv. Wie sieht das jetzt aus, ein halbes Jahr
später?
Vor einigen Monaten war der Rothschild-Boulevard in
Tel Aviv regelmässig mit Tausenden Menschen geflutet, die Netanjahus
Rücktritt forderten. Jetzt zeigt sich dort höchstens noch
versprengtes Grüppchen. Von den Korruptionsvorwürfen redet derzeit
kaum jemand. Im Gegenteil. Das Vertrauen in Netanjahu steigt aktuell
rasant. In zwei unabhängigen Umfragen würde die Likud-Partei
momentan einen Sitzgewinn einfahren. Das liegt vor allem an der
klaren Sprache, mit der Netanjahu und der Likud momentan auf die
Bedrohung reagieren. «Wagt es, uns anzufassen, dann setzt es was.» Das wollen viele Leute hier hören. Eine Regierung, die Härte
demonstriert in Krisenzeiten.
Wird die Verlegung der Botschaft
langfristig das politische Gefüge in der Region verändern?
Alleine
die Ankündigung hat schon einen Stein ins Rollen gebracht. Andere
Staaten haben angekündigt, dem Beispiel der USA zu folgen. Es wird
Auswirkungen haben, aber welche, ist zu diesem Zeitpunkt nicht
klar. Vielleicht muss man sich mit Ausschreitungen vor den jeweiligen
Botschaften in Europa gefasst machen. Aber genau lässt sich das zum
aktuellen Zeitpunkte nicht sagen.