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Interview

«Russland wird dem politischen Druck nicht mehr lange standhalten können»

A woman walks past a wall with posters depicting Russian President Vladimir Putin, right, in Warsaw, Poland, on Thursday, March 24, 2022. Ukraine President Volodymr Zelenskyy called on people worldwid ...
Eine Frau läuft in Warschau an zwei Plakaten vorbei, die sich gegen den Krieg richten.Bild: keystone
Interview

«Russland wird dem innenpolitischen Druck nicht mehr lange standhalten können»

Bislang konnten sich Russland und die Ukraine nicht auf einen Waffenstillstand einigen. Verhandlungsexpertin Nora Meier erklärt, wieso Russland die besseren Karten hat.
25.03.2022, 09:2825.03.2022, 10:01
Dennis Frasch
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Frau Meier, wer sitzt momentan am Verhandlungstisch am längeren Hebel? Russland oder die Ukraine?
Nora Meier:
Das ist eine schwierige Frage. Im Moment sieht es so aus, als ob die Ukrainer die Pläne Putins einer schnellen Einnahme des Landes durchkreuzen konnten. Langfristig gesehen, wäre es wohl aber Russland, das die Oberhand hätte, ausser es gäbe wesentliche innenpolitische Änderungen in Moskau. Diese scheinen sich momentan allerdings nicht abzuzeichnen.

Wieso langfristig Russland?
Vereinfacht gesagt, ist es schon so, dass sich Dritte aufgrund der russischen Atomwaffen scheuen, in den Krieg einzugreifen. Für Russland entfaltet also bereits das Vorhandensein eines Atomwaffenarsenals die von ihm gewünschte Wirkung. Es hängt wie ein Damoklesschwert über dem Konflikt.

Trotzdem verhandeln die Ukraine und Russland über ein mögliches Ende des Konflikts. Ungeachtet dessen, dass in Charkiw oder Mariupol weiterhin die Kugeln fliegen. Wie kann man sich das vorstellen?
Entscheidend bei Verhandlungen, ist der Wille, sich auch einigen zu wollen. Diesen Willen braucht es auf oberster Stufe, den beiden Präsidenten, ansonsten es zu keiner Einigung kommen wird. Die Unterhändler handeln jeweils im Auftrag ihrer Regierung; die Eckpfeiler ihrer Mandate sind abgesteckt. So ist es auch üblich, dass die Unterhändler während Verhandlungspausen Rücksprache mit der Zentrale halten. Generell kann man es sich aber als Gesprächsrunde vorstellen, bei der sich die Parteien gegenübersitzen und jede Seite einen Wortführer stellt, der die Verhandlungen für sie entsprechend führt.

«Ernsthafte Verhandlungen können erst geführt werden, wenn beide Parteien einsehen, dass man seine Interessen nicht auf dem militärischen Weg durchsetzen kann.»

Und dann wird da ganz gesittet verhandelt? Jeder lässt den anderen ausreden?
Das ist eine Frage des Temperaments. Ich würde Fragen, die Personen und Persönlichkeiten betreffen, allerdings nicht überbewerten. In diesen Verhandlungen geht es um eine äusserst wichtige Substanz, um Leben oder Tod.

Können Sie mir einen typischen Lebenszyklus einer solchen Verhandlung aufzeigen?
Zu Beginn sind solche Gespräche eher exploratorischer Natur. Dabei geht es darum, dass beide Seiten vorsondieren, was die Interessen der anderen Partei sind. Gleichzeitig werden die eigenen Interessen dargestellt und Perspektiven aufgezeigt.

Wie geht es dann weiter?
Jene Partei, die vielleicht unter grösserem Druck steht, sollte versuchen, eine Lösung zu skizzieren. Es braucht aber auch von der anderen Seite die Einsicht, dass die eigenen Interessen in einer diplomatischen Lösung besser gewahrt werden können als mit einem Krieg.

... und so kann man gleich zum konstruktiven Teil der Verhandlungen springen.
Theoretisch schon. Der Konflikt muss jedoch erst «reif» sein. Ernsthafte Verhandlungen können erst geführt werden, wenn beide Parteien einsehen, dass man seine Interessen nicht auf dem militärischen Weg durchsetzen kann.

Befinden wir uns schon in diesem Stadium? Ist der Krieg schon reif?
Das wäre zu hoffen. Ich bin mir aber nicht sicher. Dem Vernehmen nach wollte Putin Selenskyj bis anhin nicht persönlich treffen. Das könnte ein Zeichen dafür sein, dass Putin noch der Ansicht ist, dass er mit erhöhtem militärischem Druck eine bessere Ausgangslage für Verhandlungen schaffen könnte.

Aber der Krieg dauert jetzt schon seit einem Monat an, er ist mehr oder weniger festgefahren. Auf russischer Seite gibt es zudem hohe Verluste.
Es scheint so, als ob der Kreml zu Beginn davon ausging, die Ukraine militärisch in kurzer Zeit besiegen zu können. Wie wir nun sehen, ist dies so nicht eingetreten. Zusätzlich zu dieser Fehleinschätzung wurde Russland von harten Sanktionen getroffen und ist wirtschaftlich stark isoliert. Da stellt sich die Frage: Wie lange kann Putin diesem Druck standhalten?

Sagen Sie es mir.
Verhandlungstechnisch wird es nicht einfacher für Putin. Vielleicht glaubt er, sich die Schwarzmeerküste und den Donbass noch sichern zu können. Oder militärisch den längeren Atem zu haben. Es ist auch eine Frage der Gesichtswahrung. Wie lange kann Putin die Verluste im eigenen Land noch rechtfertigen oder geheim halten? Wie kommt er heil aus der Sache raus? Putin wird sich momentan genau überlegen, wie die nächsten Schritte aussehen sollen.

Welche Optionen hat er?
Es muss definitiv ein Strategiewechsel her. Putin könnte sich dazu entscheiden, die Lage weiter eskalieren zu lassen und gegen die Ukraine vermehrt Luftwaffe und Artillerie einzusetzen, um das Land vollständig einzunehmen, mit dem Risiko allerdings, dass er am Schluss ein total zerstörtes Land übernehmen kann. Oder er setzt sich an den Verhandlungstisch.

Gehen auch wir zurück an den Verhandlungstisch. Wie lässt es sich überhaupt verhandeln, wenn die Kämpfe simultan weitergehen? Die Ausgangslage ist doch fast jeden Tag eine neue.
Man muss die Erfolgschancen der eigenen Verhandlungslösungen tatsächlich jeden Tag neu beurteilen. Die Fortsetzung der Zerstörung wird meines Erachtens aber früher oder später die Parteien an den Verhandlungstisch bringen müssen.

Also müssen wir uns längerfristig auf Krieg einstellen?
In einem ersten Schritt wäre es sehr wichtig, eine baldige Waffenruhe vereinbaren zu können. In einem zweiten Schritt wäre dann zu hoffen, dass sich die Parteien auf eine langfristige Friedenslösung einigen könnten. Mögliche Elemente solcher Lösungen wurden auch von den Parteien selbst schon angesprochen. Ich glaube, dass es in den nächsten Wochen zu einer Friedensvereinbarung kommen wird.

Welche Einigungsszenarien sind Ihrer Meinung nach realistisch?
Im Vordergrund steht die Frage, wie man mit den besetzten Teilen der Ukraine – der Krim und den Gebieten im Donbass – umgeht. Des Weiteren könnte sich die Ukraine zur Neutralität verpflichten, dies allerdings nicht permanent. Es wäre keine starre Neutralitätserklärung, sondern ein überprüfbarer und veränderbarer Status. Für solche Zugeständnisse müsste die Ukraine von der internationalen Staatengemeinschaft im Gegenzug Sicherheitsgarantien erhalten, zum Beispiel in Form einer Souveränitätserklärung oder eines Nichtangriffspakts. Klar ist: Eine Einigung muss bald kommen, Russland wird dem innenpolitischen Druck nicht mehr lange standhalten können.

Bild
bild: zvg
Zur Person
Nora Meier ist Managing Director der Swiss School of Public Governance und arbeitete am ETH-Lehrstuhl für Verhandlungsführung und Konfliktmanagement von Prof. Michael Ambühl.
Russlands Atomwaffen sind der einzige Grund, wieso sie überhaupt so weit gekommen sind.

Wie stellt man sicher, dass eine allfällige Friedensvereinbarung auch eingehalten wird?
Darin liegt die Kunst einer Vereinbarung. Sie muss so ausgestaltet sein, dass beide Parteien ein Interesse daran haben, sie auch einzuhalten. Denkbar wäre zum Beispiel die Einbettung eines Automatismus in einer Absichtserklärung westlicher Staaten, ein sogenannter Snapback-Mechanismus.

Das heisst?
Wenn eine Partei das Abkommen verletzt, treten automatisch die Snapback-Mechanismen in Kraft. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass die Sanktionen gegenüber Russland sofort wieder in Kraft treten, hält es sich nicht an die abgemachten Konditionen.

Also eine Art Rückversicherung. Oder Abschreckung.
Genau.​

Angenommen, die Ukraine verletze ihren Teil der Abmachung und tritt trotz Neutralitätsbekundungen der Nato bei. Welche Rückversicherungsmöglichkeiten hätte Russland?
Russland wäre dann nicht mehr an die Vertragsbestimmungen gebunden.

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176 Kommentare
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Hans Jürg
25.03.2022 09:47registriert Januar 2015
"Sicherheitsgarantien(...) in Form einer Souveränitätserklärung oder eines Nichtangriffspakts."

Das gibt es doch schon längst, das sog. Budapester-Memorandum aus dem Jahr .

https://de.wikipedia.org/wiki/Budapester_Memorandum

Aber Russland hält sich an keine Verträge mehr, die sie unterzeichnet hat. Kann man denen noch vertrauen?
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rolf.iller
25.03.2022 10:16registriert Juli 2014
"In einem ersten Schritt wäre es sehr wichtig, eine baldige Waffenruhe vereinbaren zu können."

Sorry, das ist aber sehr Naiv. Russland hat noch nie eine Waffenruhe genutzt, für Fortschritte in Friedensverhandlungen. Für die ist das eine Gefächtspause, die sie zur Reorganisation nutzen werden, um später effektiver Zurückschlagen zu können.

Das Grundproblem hier ist, dass mit einem Regime, dass unverholen und ständig lügt und täuscht und Vereinbarungen nur solange hält, wie es für sie nützlich ist, keine Friedensvereinbarung möglich ist.

Das hier muss auf dem Schlachtfeld gelöst werden.
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Salvatore_M
25.03.2022 09:55registriert Januar 2022
Ein guter Artikel. Ich denke jedoch, dass Putin noch nicht zu echten Verhandlungen bereit ist.

Zur Sache mit den Atomwaffen. Es waren gerade auch die USA, welche 1994 die Ukraine zur Aufgabe ihrer Atomwaffen drängten. Diese Lebensversicherung abzugeben, war aus heutiger Sicht ein Riesenfehler gewesen.
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