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Interview

Ukraine: «Hier manifestiert sich die Verzweiflung der russischen Armee»

In this image released by Ukrainian Defense Ministry Press Service, Ukrainian soldiers use a launcher with US Javelin missiles during military exercises in Donetsk region, Ukraine, Thursday, Dec. 23,  ...
Ukrainische Soldaten feuern während einer Übung im Dezember 2021 eine Javelin-Rakete ab. Die Waffenlieferungen des Westens sind im Krieg gegen Russland eine «entscheidende Hilfe», sagt Militärexperte Marcel Berni. Bild: keystone
Interview

«Von diesen Waffen wurden die Russen überrascht»

Militärexperte Marcel Berni erklärt, welche Strategie Russland verfolgt, wenn es zivile Ziele wie Spitäler angreift. Zudem erläutert er die Bedeutung der westlichen Waffenlieferungen und sagt, welche Waffen die Russen besonders überrascht haben.
24.03.2022, 05:5825.03.2022, 06:43
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Die russische Armee tut sich in der Ukraine weiterhin schwer. Täuscht der Eindruck?
Marcel Berni: Die russische Armee kommt an allen Fronten nur stockend voran, aber sie kommt voran. Gerade im Süden hat sie es geschafft, immer mehr Gelände unter Kontrolle zu bringen. Aber die Herrschaft ist wacklig. Es gelingt ihr vor allem nicht, grössere Städte einzunehmen.

Weshalb können die Russen keine grösseren Städte erobern?
Wahrscheinlich empfinden sie die ukrainische Gegenwehr als zu stark. Stattdessen versuchen sie, die Städte von der Umwelt abzuschneiden, wie momentan etwa in Mariupol. Bisher ist es der russischen Armee aber nicht gelungen, ukrainische Truppen einzukesseln und zu vernichten.

Was bringt es den Russen, die Städte einzukesseln?
Die Russen haben zu wenig Soldaten im Feld, um grosse Städte zu stürmen und zu halten. Das taktisch operative Vorgehen ist stattdessen, die Städte abzuriegeln und dafür zu sorgen, dass keine Versorgung mehr dorthin gelangt. Danach warten die Russen ab und lassen die Bevölkerung und die Verteidiger aushungern.

An explosion is seen in an apartment building after Russian's army tank fires in Mariupol, Ukraine, Friday, March 11, 2022. (AP Photo/Evgeniy Maloletka)
Eine Explosion in einem Wohngebäude in der belagerten Stadt Mariupol.Bild: keystone

Damit der Widerstand bricht?
Das ist die Hoffnung der Russen. Aber ich glaube nicht, dass dies geschehen wird. Der ukrainische Widerstand ist sehr stark und konzentriert und wird nicht nachlassen. Aber vielleicht erhoffen sich die Russen, die Städte leichter stürmen zu können, wenn der Gegner geschwächt ist.

Marcel Berni.
Marcel Berni.bild: zvg
Zur Person
Dr. Marcel Berni studierte von 2008 bis 2013 Geschichte, Politikwissenschaft und Ökologie an der Universität Bern. Seit 2014 forscht und lehrt er als wissenschaftlicher Assistent an der Dozentur Strategische Studien der Militärakademie an der ETH Zürich. 2019 promovierte er mit einer Arbeit über kommunistische Gefangene im Vietnamkrieg an der Universität Hamburg. Die Studie, die im Herbst 2020 in überarbeiteter Form erschienen ist, gewann den André Corvisier Preis für die beste militärhistorische Dissertation. Im Jahr 2022 vertritt er die Dozentur Strategische Studien in Forschung und Lehre.

In Kiew ist es den Russen aber noch nicht gelungen, die Stadt zu umstellen. Weshalb?
Kiew ist nur im Norden und Nordosten von den Russen umstellt. Der Süden ist frei. Deswegen gelangen immer noch viele Waffen, Nahrungsmittel und weitere Versorgungsmittel in die Stadt. Kiew ist eine sehr grosse Stadt, die kann man nicht einfach so einkesseln. Dafür bräuchte es eine riesige Armee und die hat Russland momentan nicht im Feld.

Die russische Armee zerstört Wohnhäuser und Spitäler. Was ist die Strategie dahinter?
Die Zivilbevölkerung wird immer mehr ins Fadenkreuz genommen. Das sind ganz klare Kriegsverbrechen. Das sind keine militärischen Ziele. Die Russen wollen damit den zivilen Widerstand brechen. Hier manifestiert sich die Verzweiflung der russischen Armee. Man versucht, die Städte zu umstellen und mit Artillerie zu beschiessen, ohne dabei die unmittelbare Einnahme der Städte anzustreben.

Ukrainian emergency employees and volunteers carry an injured pregnant woman from a maternity hospital damaged by shelling in Mariupol, Ukraine, Wednesday, March 9, 2022. The baby was born dead. Half  ...
Männer tragen eine Frau aus einem zerstörten Spital in Mariupol, wo sie ihr Kind hätte gebären sollen. Sowohl das Baby als auch die Mutter überlebten den Angriff der Russen nicht.Bild: keystone

Es häufen sich Berichte über gefallene russische Generäle. Wie beurteilen Sie das?
Die russische Armee hat Kommunikationsprobleme. Sie hat mit zivilen Telefonen telefoniert. Die Ukrainer konnten dies abhören und die Generäle so lokalisieren und töten. Das gibt es in einem Krieg sonst relativ selten. Die Generalität ist im Normalfall nicht an der Front, sondern im rückwärtigen Raum, wo sie Kommandos erlässt.

Weshalb handhaben die Russen dies nun anders?
Die Generäle wurden zur Kontrolle an die Front geschickt, weil die Moral bei den russischen Soldaten schlecht ist. Es ist wirklich sehr selten, dass Generäle an der Front vom Gegner umgebracht werden.

Die Kommunikationsprobleme wirken sehr dilettantisch.
Ja, aus unserer Perspektive wirkt das sehr dilettantisch. Aber es könnte auch sein, dass die Amerikaner mit elektronischer Kriegsführung die russische Kommunikation von Polen aus stören. Es ist schwierig, zu sagen, was exakt passiert ist. Aber die Berichte, dass die russische Kommunikation nur schleppend oder gar nicht funktioniert, mehren sich.

Die USA wollen Waffen im Wert von 800 Millionen US-Dollar in die Ukraine senden. Ist das eine entscheidende Hilfe oder ist das mehr symbolischer Art?
Das ist eine entscheidende Hilfe. Die Ukrainer sind auf die Munition und Waffen aus dem Westen angewiesen.

«Die Russen haben bei der Luftwaffe ganz klar die Oberhand. Aber sie fliegen sehr selten über der Ukraine.»

Die USA wollen 800 Flugabwehrraketen vom Typ Stinger in die Ukraine liefern. Deutschland überreicht Strela-Luftabwehrraketen. Was bedeutet dies für die russische Luftwaffe?
Mit diesen Waffen kann die russische Luftwaffe vom Boden aus abgeschossen werden. Es ist sehr gefährlich für die Russen, im ukrainischen Luftraum zu agieren. Die gelieferten Boden-Luft-Raketen sollen den Ukrainern nun helfen, die russische Übermacht am Himmel zu brechen.

Wie sieht es aktuell in der Luft aus? Fliegen die Russen überhaupt noch Angriffe?
Die Russen haben bei der Luftwaffe ganz klar die Oberhand. Aber sie fliegen sehr selten über der Ukraine. Entweder weil sie Angst haben oder weil sie die Luftwaffe als strategische Reserve behalten wollen, falls es in einen Krieg mit der Nato gehen würde. Pro Tag fliegen die Russen etwa 200 Einsätze im Zusammenhang mit der Ukraine. Oftmals schiessen sie dabei von der russischen Grenze aus und überqueren den ukrainischen Luftraum nicht.

Und die Ukrainer? Fliegen die auch noch?
Ja, aber nicht sehr oft. Momentan sind es etwa fünf bis zehn Starts pro Tag. Der Luftraum bleibt aber umkämpft.

Könnte man die Ukrainer ermächtigen, selbstständig eine Flugverbotszone zu errichten? Sprich: Sie mit so vielen Boden-Luft-Raketen auszustatten, damit die Russen gar nicht mehr in den ukrainischen Luftraum dringen können.
Nein, dazu fehlen die Mittel. Wir sprechen hier von einem riesigen Raum, der abgedeckt werden müsste. Eine Flugverbotszone könnte nur die Nato realisieren – unter massivem Einsatz von Luft- und Boden-Luft-Kapazitäten.

Die Ukrainer könnten theoretisch die russischen Flugabwehrraktensysteme vom Typ S-300 benutzen. Diese sind in den osteuropäischen Nato-Ländern noch vorhanden. Was würde ein solcher Transfer bewirken?
Diese Systeme haben eine viel grössere Reichweite als die gelieferten Strela- und Stingerraketen. Die S-300 hat eine Reichweite von über 100 Kilometer. Damit könnten die Ukrainer Teile ihres Luftraums – etwa um die grossen Städte herum – viel besser schützen.

Welche Rolle spielt die Drohne «Bayraktar TB2», welche die Ukraine von der Türkei erhalten hat?
Russland ist anderen Ländern in der Drohnenentwicklung unterlegen. Die türkischen Bayraktar-Drohnen haben sich schon im Krieg um Bergkarabach 2020 auf aserbaidschanischer Seite bewährt. Die armenische Luftabwehr, die hauptsächlich mit russischen Luftabwehrsystemen agierte, konnte die Drohnen damals nicht erfassen und bekämpfen. Dasselbe Problem scheint sich für die Russen in der Ukraine zu wiederholen. Vor diesem Hintergrund hat Präsident Biden angekündigt, kleinere «Switchblade»-Drohnen in die Ukraine liefern zu wollen. Damit sollte es den Ukrainern weiter ermöglicht werden, begrenzte Offensivoperationen mit unbenannten Drohnen zu fliegen.

FILE - A Turkish-made Bayraktar TB2 drone is seen during a rehearsal of a military parade dedicated to Independence Day in Kyiv, Ukraine, Friday, Aug. 20, 2021. The Russian invasion of Ukraine is the  ...
Eine Drohne des Typs Bayraktar TB2 bei einer Militärparade in Kiew.Bild: keystone

Wie beurteilen Sie die Verluste der russischen Luftwaffe bisher?
Ich war überrascht, dass es den Russen in den ersten 48 Stunden nicht gelungen ist, die ukrainischen Boden-Luft-Verteidigungsanlagen auszuschalten. Deshalb werden weiterhin russische Kampfjets, Transportflieger und Kampfhelikopter abgeschossen. Das trifft die Russen empfindlich. Aber wir dürfen uns nichts vormachen: Russland hat eine sehr grosse Luftwaffe im Vergleich zur Ukraine. Das ist wie David gegen Goliath.

«Von diesen Waffen wurden die Russen überrascht. Und auch davon, dass die Ukrainer damit so kompetent umgehen können.»

Mal abgesehen von den Boden-Luft-Raketen: Weiss man, welche bisher gelieferten Waffen aus dem Westen bereits eingesetzt werden? Und gibt es welche, die besonders effektiv sind?
Vor allem die panzerbrechenden NLAWs (Next generation Light Anti-tank Weapon) und Javelins erweisen sich als sehr effektiv. Sie funktionieren beide nach demselben System. Sie greifen Panzer an. Entweder die Raketen kommen von oben («Overfly Top Attack») oder sie kommen gerade («Direct Attack») auf die Panzer zu. Damit konnten die Ukrainer viele russische Panzer abschiessen. Von diesen Waffen wurden die Russen überrascht. Und auch davon, dass die Ukrainer damit so kompetent umgehen können. Dies liegt am Training, das sie in den vergangenen Monaten und Jahren von westlichen Beratern erhalten haben.

Ein ukrainischer Soldat mit einer NLAW, welche von der schwedischen Firma Saab hergestellt wird. Alleine Grossbritannien soll der Ukraine 4200 Stück dieser Waffe geliefert haben, wie die New York Time ...
Ein ukrainischer Soldat mit einer NLAW, welche von der schwedischen Firma Saab hergestellt wird. Alleine Grossbritannien soll der Ukraine 4200 Stück dieser Waffe geliefert haben, wie die New York Times berichtet.bild: shutterstock

Wie werden diese Waffen in die Ukraine eingeschleust?
Der Westen hat die Ukraine bereits seit 2014 und der Krim-Krise mit Waffen versorgt. Damals war es natürlich einfacher, diese ins Land zu bringen. Jetzt laufen die meisten Waffenlieferungen über die polnisch-ukrainische Grenze. Deshalb ist es so wichtig, dass die ukrainische Lebensader im Westen weiterhin offen bleibt.

Versuchen die Russen, die Waffenlieferungen im Westen der Ukraine mit Angriffen zu vereiteln?
In der Nähe der westukrainischen Stadt Lwiw haben die Russen nach eigenen Angaben einen Lagerkomplex angegriffen, in dem Waffen gelagert wurden. Dabei haben sie zum ersten Mal eine Hyperschall-Rakete eingesetzt. Die Russen werden jetzt zunehmend versuchen, die Westversorgung der Ukraine abzukappen.

Das ist ein äusserst gefährliches Spiel, wenn die Russen so nahe an der Westgrenze operieren. Fliegt eine Rakete aus Versehen zehn Kilometer zu weit ...
... dann landet sie in Polen und die Nato ist involviert. Das ist eine grosse Gefahr im Moment.

Kann die Ukraine mit den Waffenlieferungen den Krieg gewinnen? Oder kann sie ihn einfach verlängern?
Die Ukrainer werden damit nicht alle Russen von ihrem Gebiet vertreiben können. Sie können der russischen Armee aber erhebliche Verluste zufügen und hoffen, dass Wladimir Putin letzten Endes bereit für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen ist. Momentan sieht es aber nicht danach aus. Vieles deutet auf einen stockenden Abnutzungskrieg hin.

Verlängert der Westen mit seinen Waffenlieferungen nicht einfach den Krieg und das Leid der Ukrainer?
Was will der Westen sonst machen? Wenn er gar keine Waffen mehr liefert, muss sich der ukrainische Widerstand mit uralten Waffen aus Sowjetzeiten verteidigen und bricht vielleicht zusammen. Die Waffenlieferungen verzögern nicht das Leid, sie geben dem Widerstandskämpfer die Möglichkeit, sich selber zu verteidigen.

Diese Drohnenaufnahme zeigt die Zerstörung von Mariupol

Video: watson/Aya Baalbaki
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66 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Linus Luchs
24.03.2022 07:07registriert Juli 2014
Sehr gutes Interview. Aber eine Frage hätte ich dem Militärexperten gerne noch gestellt:
Wenn die russische Armee nicht vorwärts kommt und die Verluste weiter zunehmen, besteht dann die Gefahr, dass Putin die finale Aktion befiehlt, den Atomschlag?
Ich kann und will es mir nicht vorstellen, aber die Einschätzung des Experten wäre interessant.
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*Butterfly*
24.03.2022 07:37registriert Februar 2022
Ein sehr gutes, unaufgeregtes Interview.
Seine Einschätzung, dass "vieles auf einen stockenden Abnutzungskrieg hindeutet", wird sich wohl leider bewahrheiten. Und das wiederum bedeutet, dass sich das Ganze noch lange hinziehen und täglich mehr Leid zugefügt wird. So schlimm!

Dieser machtgierige Zaren-Typ ist ganz offensichtlich nicht mehr zur Einsicht oder gesundem Menschenverstand fähig.
Es bleibt zu hoffen, dass die russischen Soldaten selbst zur Einsicht gelangen, was das Ganze bloss soll und aufgeben. Wäre sehr schön, wenn sich ein solcher "Friedensvirus" bei ihnen verbreiten würde.
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Unicron
24.03.2022 07:08registriert November 2016
"Die Waffenlieferungen verzögern nicht das Leid, sie geben dem Widerstandskämpfer die Möglichkeit, sich selber zu verteidigen."

Das hier.
Ich finde es erschreckend wie viele von der Ukraine fordern sie solle zum Schutz der Zivilisten doch einfach aufgeben.
Besonders auf 20min sieht man das momentan oft.
Die Ukraine ist hier ein Opfer, und wenn sie den Krieg verliert, wird sie zu einem Land wie Belarus degradiert, in welchem die Bevölkerung nichts zu sagen hat und nach der Pfeife von Russland tanzt.
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