Drei Tage sind seit Prigoschins Meuterei vergangen. Weiss man mittlerweile, warum der Wagner-Chef 200 Kilometer vor Moskau umgekehrt ist?
Ulrich Schmid: Prigoschin hat gesagt, er habe nicht auf einen Sturz Wladimir Putins hingearbeitet. Das ist plausibel. Prigoschins Ziel bestand darin, Putin zu einer härteren militärischen Linie in der Ukraine zu zwingen. Prigoschin wollte, dass Putin eine Generalmobilmachung ausruft. Als Prigoschin verstanden hatte, dass Putin ihn als Verräter bezeichnet und damit für vogelfrei erklärt, ergriff er die Möglichkeit, nach Belarus auszuweichen.
Ist Prigoschin mit seiner Aktion dem Ziel einer Generalmobilmachung einen Schritt näher gekommen?
Nein, eine Generalmobilmachung ist nach wie vor sehr unwahrscheinlich.
Warum?
Putin hat von Anfang an gesagt, die militärische Spezialoperation in der Ukraine betreffe die eigene Bevölkerung nicht. Mit einer Generalmobilmachung würde er dieses Versprechen brechen.
Prigoschin hat sich also verzockt.
Ja. Es ist erstaunlich, dass er sich zu dieser Aktion entschlossen hat. An und für sich ist er ein schlau kalkulierender Machtmensch. Er hätte eigentlich wissen müssen, dass er mit einem Marsch auf Moskau keinen Erfolg haben wird.
Prigoschin soll jetzt nach Belarus ins Exil. Lebt er dort sicher?
Es besteht die Möglichkeit, dass der russische Geheimdienst einen Anschlag auf Prigoschin verüben wird. Dafür könnte es zwei Gründe geben. Erstens als Rache für den Verrat. Zweitens kann sich Putin nicht sicher sein, ob Prigoschin nicht erneut einen Aufstand plant.
Wurde Putin durch den Aufstand geschwächt?
Der Aufstand hat zwei Verlierer hervorgebracht. Einerseits Prigoschin, andererseits Putin. Putin hat beträchtlich an Autorität verloren. Es ist nun offensichtlich, dass er nicht einmal mehr seine eigenen militärischen Einheiten im Griff hat. Dass Alexander Lukaschenko in der ganzen Affäre an Statur gewonnen hat, ist eine weitere bittere Pille für Putin. Bis vor Kurzem war Lukaschenko komplett abhängig von Putin, da er seit den gefälschten belarussischen Präsidentschaftswahlen von 2020 sehr geschwächt war. Jetzt hat Lukaschenko seinen Handlungsspielraum geschickt ausgelotet und steht als Vermittler zwischen zwei Konfliktparteien da. Er ist der lachende Dritte in diesem Streit.
Die Vorbereitungen zum Schutz von Moskau sahen ziemlich dürftig aus. Bagger gruben Löcher in die Strasse, Busse wurden in den Weg gestellt. Ist das alles, was Putin geblieben ist?
Putin musste aufpassen, dass Prigoschins Meuterei nicht zu offenen Kampfhandlungen auf russischem Boden eskaliert. Deshalb blieb ihm nicht viel anderes übrig, als den Marsch auf Moskau mit Hindernissen zu stoppen.
Zum persönlichen Schutz hätte Putin aber schon noch mehr zu bieten?
Ja, da wäre etwa die Nationalgarde, die bisher die einzelnen Ministerien und einzelnen Republiken beschützt hat. Die treueste Armeeeinheit, die Putin unterstellt ist, ist der sogenannte FSO. Das ist eine gigantisch aufgeblähte Leibwächtertruppe, die über 40’000 Mann verfügt. Man kann davon ausgehen, dass die persönliche Sicherheit von Putin exzellent organisiert ist.
Was hat der Aufstand mit der russischen Bevölkerung gemacht?
Die Bevölkerung ist sehr verunsichert. Das Narrativ einer militärischen Spezialoperation, welche die Bevölkerung nicht tangiert, bricht in sich zusammen. Plötzlich gibt es Barrikaden und eine erhöhte Terrorwarnung in Moskau. Der Krieg kommt jetzt in grosse russische Städte wie Rostow und Woronesch. Putin galt bisher als Garant für Stabilität und Sicherheit, das ist jetzt nicht mehr der Fall.
Interessiert das jemanden, der in Wladiwostok wohnt?
In Wladiwostok gibt es auch andere Vorbehalte gegenüber der Zentralregierung. Im Fernen Osten gab es schon vor dem Krieg Proteste, als der populäre Gouverneur Sergej Furgal wegen angeblicher Korruption verhaftet wurde. In Russland gilt die Regel: Je ferner man von Moskau lebt, desto skeptischer ist man gegenüber dem Machtzentrum eingestellt. Der Aufstand von Prigoschin dürfte das Vertrauen in die Regierung zusätzlich geschwächt haben.
Wer hält überhaupt noch zu Putin?
Putin konnte sich bis vor Kurzem auf eine breite, depolitisierte Mehrheit stützen. Etwa 15 Prozent der Russen sind für den Krieg, 15 Prozent sind radikal gegen den Krieg. Dazwischen gibt es eine grosse Mehrheit, die sich dem politischen Geschehen gegenüber apathisch verhält. Das sind keine starken Unterstützer Putins, das sind Leute, die politische und wirtschaftliche Stabilität wollen. Sobald die schweigende Mehrheit am System Putin zu zweifeln beginnt, könnte es für den Kreml problematisch werden.
Unterstützung erhielt Putin auch von den tschetschenischen Kämpfern um Anführer Ramsan Kadyrow, die ihm am Samstag zu Hilfe eilten.
Kadyrow hat relativ schnell gesagt, er werde Putin helfen. Für Prigoschin war das fatal. Zwischen den Wagner-Truppen und den Tschetschenen sehen wir einen weiteren innerrussischen Konflikt. Dazu muss man wissen, dass Kadyrow einen Deal hat mit Putin.
Wie sieht dieser Deal aus?
Tschetschenien gilt aus Sicht Moskaus als problematisches Gebiet, wo es Ende der 90er- und Anfang der 2000er-Jahre zwei Kriege gegeben hat. Kadyrow kommt aus einer separatistischen Familie, hat aber einen Vertrag mit Putin geschlossen, als er an die Macht kam. Kadyrow sorgt für Ruhe in Tschetschenien und dafür, dass sich das Gebiet nicht aus der Russischen Föderation löst. Umgekehrt lässt Putin Kadyrow gewähren und lässt beträchtliche finanzielle Mittel von Moskau nach Tschetschenien fliessen.
Wie lange wird Kadyrow zu Putin halten?
Kadyrow wird genau so lange zu Putin halten, als er in ihm den Garanten seiner eigenen Macht erblickt. Sobald das nicht mehr der Fall ist, wird Kadyrow sich nach anderen Optionen umsehen.
Die Wagner-Kämpfer haben jetzt die Möglichkeit, sich der russischen Armee anzuschliessen. Wird die Integration gelingen?
Nach Prigoschins Aufstand sind Risse innerhalb der Wagner-Gruppierung entstanden. Es gibt die ultra-nationalistischen Fanatiker, die enttäuscht sind, dass Prigoschin aufgegeben hat. Was diese machen, ist unklar. Dann gibt es sicher auch solche, die sich der russischen Armee anschliessen werden. Allerdings ist das weit weniger prestigeträchtig, da sich die Wagner-Kämpfer als Eliteeinheit betrachten. Und einige treue Gefolgsleute werden Prigoschin nach Belarus folgen.
Der Kreml ist für Aussenstehende immer etwas eine Blackbox. Gibt es da Leute, die nur darauf warten, Putins Platz einzunehmen, oder halten die zu ihm?
Das wichtigste Karrierekriterium bisher war absolute Loyalität gegenüber Putin. Alle Leute in formellen und informellen Machtpositionen mussten diesen Loyalitätstest bestehen. Das beste Beispiel ist Gouverneur Alexei Djumin. Er war früher Leibwächter von Putin und gilt nun als möglicher Kandidat für den Posten des Verteidigungsministers. An diesem Fall sieht man, was die wichtigen Startkriterien sind für eine politische und administrative Karriere in Putins Russland. Aber die Leute im Kreml müssen sich nicht in allem einig sein, da gibt es verschiedene Lobbygruppen.
Was für Gruppen sind das?
Da gibt es zum Beispiel die sogenannte «Kriegspartei», die hauptsächlich aus den Mitgliedern des Sicherheitsrates besteht. Das sind diejenigen Personen, die auf den Krieg in der Ukraine gedrängt haben und Russland wieder zu imperialer Grösse verhelfen wollen. Auf der anderen Seite gibt es die Fraktion der «liberalen Insider».
Wofür stehen diese Leute ein?
Das sind Technokraten, die ebenfalls loyal sind gegenüber Putin und in dessen System Karriere gemacht haben. Diese Personen wollen, dass Russland technologisch und wirtschaftlich modernisiert wird. Sie drängen auf ein Ende des Krieges. Putin ist in einer unmöglichen Situation. Die eine Seite fordert eine härtere Gangart im Krieg, während die andere Seite will, dass die Kriegshandlungen heruntergefahren werden.
Erleben wir den Anfang von Putins Ende?
Ich vermute, dass sowohl Putin als auch die verschiedenen Einflussgruppen im Kreml immer deutlicher sehen, dass die Situation absolut verfahren ist. Mit Putin als Präsident kann kein Ausweg aus dieser Situation gefunden werden. Denkbar ist eine Wiederholung des Szenarios aus dem Jahr 1999.
Was ist damals passiert?
Der damalige Präsident Boris Jelzin war sehr schwach und trat per Ende 1999 zurück. Kurz zuvor ernannte er den damals noch unbekannten KGB-Chef Wladimir Putin zum Ministerpräsidenten. Nach Jelzins Rücktritt wurde Putin automatisch zum Interimspräsidenten und erlangte durch Fernsehauftritte Bekanntheit. Ende März 2000 wurde er zum Präsidenten gewählt.
Im März 2024 finden in Russland Präsidentschaftswahlen statt. Sie halten es also für möglich, dass Putin in wenigen Monaten zurücktritt und der Ministerpräsident sein Nachfolger wird?
Ja. Der aktuelle Ministerpräsident ist Michail Mischustin. Er gehört zu den liberalen Technokraten, ist aber komplett loyal zum System Putin. Vorstellbar wäre aber auch ein Wechsel auf dem Posten des Ministerpräsidenten in den kommenden Monaten. Hinter den Kulissen werden sich jetzt die einzelnen Machtgruppen neu formieren und auf eine Stabilisierung Russlands hinarbeiten.
Nein, Putin wird nicht friedlich gehen. Und es ist zu viel Geschirr zerschlagen dass der Westen es einfach akzeptieren wird. Putins Nachfolger muss radikal mit dem jetzigen Regime brechen, wenn die Sanktionen auch nur ansatzweise aufgehoben werden sollen.