«Serbien befindet sich an einem Wendepunkt»
Herr Bochsler, Sie sind aktuell in Serbien vor Ort. Wie ist die Stimmung im Land?
Daniel Bochsler: Ich war jetzt während des grössten Teils der Zeit, in denen die Proteste stattfanden, in Serbien. Die Menschen wirken unzufrieden und angespannt, als würden sie den Atem anhalten. Die Proteste gegen die Regierung unter Präsident Aleksandar Vucic halten seit neun Monaten an – und blieben bisher ergebnislos. Deshalb werden die Menschen langsam ungeduldig. Sie fragen sich, wie es weitergehen soll, was aus diesen Protesten hervorgehen kann. Und niemand kennt die Antwort.
Es sind nicht die ersten Proteste, die sich gegen Präsident Aleksandar Vucic richten. Was ist dieses Mal anders?
Die jetzigen Proteste gehen nicht von der politischen Opposition aus. Sie sind direkt aus der Bevölkerung entsprungen, ausgehend von den Studierenden. Diese haben inzwischen in über 400 Ortschaften Protestdemonstrationen organisiert, nicht nur in Belgrad. Das zeigt, dass die Bewegung nicht nur über die gebildete, urbane, ohnehin progressive Bevölkerung in den Städten hinaus mobilisiert, sondern weit ins Lager der Regierung hineinwirkt.
Auslöser für die Proteste war der Einsturz eines frisch renovierten Bahnhofsdachs im November 2024, bei dem 16 Menschen ums Leben kamen. War der Vorfall der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat?
Ja, und das erinnert an den Beginn des Arabischen Frühlings: Damals war es die Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers in Tunesien, die Proteste im ganzen Land und schliesslich in den Nachbarländern auslöste. Ähnlich ist es jetzt in Serbien. Mit dem Unterschied, dass die Protestbewegung nicht auf Nachbarländer übergeschwappt ist. Obwohl es in Mazedonien Versuche gab, das Thema aufzugreifen.
Wofür steht der Einsturz des Bahnhofsdachs?
Für die Korruption, Vetternwirtschaft und schlechte Infrastruktur, unter der die Serbinnen und Serben leiden. Deshalb stand auf den Transparenten der Demonstranten bei den ersten Protesten: «Wir stehen alle unter dem Bahnhofsdach.» Es ging ihnen um Rechtsstaatlichkeit. Darum, dass die Regierung aufklärt, wie es zum Einsturz des Bahnhofsdachs kommen konnte. Wer die Verantwortung trägt. Inzwischen geht es den Demonstrierenden um viel mehr.
Worum geht es ihnen jetzt?
Die Regierung bleibt der Bevölkerung bis jetzt eine Aufklärung schuldig. Deshalb hat sie genug von Vucic und seiner Partei. Die Protestierenden fordern Neuwahlen.
Aleksandar Vucic besetzt seit 2017 das Präsidentenamt. Er ist Vorsitzender der rechtsnationalistischen Serbischen Fortschrittspartei. Wie sieht das Leben unter seiner Regierung aus?
Wirtschaftlich leiden viele unter niedrigen Löhnen in Zeiten von hoher Inflation und hohen Lebenshaltungskosten. Viele Lebensmittel und beispielsweise auch Energie sind teurer als in Westeuropa. Gleichzeitig setzen Korruption in Kombination mit Inkompetenz dem Land zu.
Können Sie ein Beispiel machen, abgesehen vom eingestürzten Bahnhofsdach?
Eltern veranstalten regelmässig Spendenkampagnen für medizinische Eingriffe für ihre Kinder. Weil das Gesundheitssystem versagt. Vucics Partei setzt Parteikader als Schuldirektoren ein, welche die Schulen kaputtwirtschaften und auch noch das kleinste Budget für eigene Zwecke einsetzen. Und unter inkompetenten Verkehrsplanern werden Strassen ständig unkoordiniert umgebaut. Gleichzeitig fehlt es andernorts an ganz grundlegender Infrastruktur wie Abwasserkanälen. Das sind nur ein paar Beispiele.
Wie reagiert Vucic auf die Protestbewegung?
Mit Gewalt. Vucic setzt Schlägertrupps gegen die Demonstranten ein. Es gibt Hinweise, dass diese Schlägertrupps aus dem Umfeld von Fussballklubs, Mafia-Kreisen und Kriminellen stammen. Das Beispiel einer meiner Studentinnen steht bezeichnend für die Eskalation der Gewalt.
Kricak soll den Kopf der Studentin mehrfach gegen eine Wand gerammt haben. Anschliessend soll er ihr gedroht haben, sie vor allen Anwesenden zu vergewaltigen. Die Sondereinheit weist die Vorwürfe gegen Kricak zurück.
Gegenüber Medien bezeichnete Vucic die Demonstrierenden als «Schläger» und «Mörder», von denen Serbien gesäubert werden muss. Wie kommt er darauf?
In Reaktion auf die Gewalt seitens der Polizei und Anhänger der Regierungspartei ist in den letzten Tagen ein Teil der Protestierenden dazu übergegangen, Parteilokale der Regierungspartei zu beschädigen. Das kommt Vucic gelegen. Mit der zunehmenden Gewalt gegen die Demonstrierenden versucht er, den friedlichen Teil der Protestierenden zu demobilisieren. So, dass am Ende die radikalen Exponenten die Überhand gewinnen. Auf diese Weise würde die Bewegung den Rückhalt in der Bevölkerung verlieren. Und gegenüber der EU könnte er sagen: Seht, die Demonstranten sind gewalttätig.
Geht diese Strategie auf?
In manchen europäischen Institutionen wird das Narrativ von den gewalttätigen Demonstranten bereits übernommen. Die serbische Regierung versucht aber auch auf anderem Weg, die Menschen zu besänftigen: mit kleinen finanziellen Geschenken an ihre Wählerinnen und Wähler. Vor einigen Tagen hat Vucic beispielsweise Preissenkungen auf Lebensmittel des Grundbedarfs versprochen. Das ist gerade für ärmere Schichten, die ihn häufig wählen, wichtig. Diese Wählerbesänftigung werte ich als ein Zeichen dafür, dass es in Serbien auf Neuwahlen hinauslaufen wird.
Neuwahlen müsste die jetzige Regierung ausrufen. Könnten das überhaupt faire, freie Wahlen werden?
Nein. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat nach den letzten Wahlen einen ganzen Katalog mit Problemen präsentiert, welche die serbische Regierung beheben muss, damit in Serbien freie Wahlen stattfinden können. Um nur drei Probleme von dieser Liste zu nennen: Alle Sender mit nationaler Sendelizenz stehen unter dem Einfluss der Regierungspartei. Oppositionsparteien erhalten im Fernsehen deshalb kaum Platz, um ihre Botschaften zu platzieren. Die Regierungspartei manipuliert das Wählerregister, um die Wahlergebnisse zu beeinflussen. Und sie missbraucht staatliche Gelder, um Wählerinnen und Wähler für sich zu gewinnen.
Ist Serbien noch eine Demokratie?
Ich würde in Serbien eher von einer Mischung aus Demokratie und Autokratie sprechen, einem kompetitiv-autoritären System. Die Regierung unter Vucic tut zwar so, als wäre Serbien noch eine Demokratie, sie hält beispielsweise Wahlen ab und es gibt noch unabhängige Zeitungen. Der politische Wettbewerb ist jedoch eingeschränkt. Die Regierungspartei nutzt autoritäre Mittel, um an der Macht zu bleiben. Serbien ist vergleichbar mit Ungarn unter Viktor Orban.
Serbien befindet sich eigentlich in Beitrittsgesprächen zur EU. Setzt Vucic den EU-Beitritt mit der Gewalt gegen die Proteste nicht aufs Spiel?
Die EU hat zu lange pragmatische Deals gemacht, anstatt auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Serbien zu pochen. Zuletzt ging es der EU um den Abbau von Lithium, das für Autobatterien benötigt wird und für die deutsche Autoindustrie essenziell ist. Auch jetzt zeigt sich die EU wenig entschlossen, Druck auf Vucic auszuüben.
Sie sind Professor für Politikwissenschaft an der Universität Belgrad. Sie konnten wegen der Proteste seit Dezember nicht mehr unterrichten. Wie wird es im neuen Herbstsemester für Sie und die Studierenden weitergehen?
Im Moment holen wir durch Online-Unterricht einen Teil der Kurse nach. Wann und wie wir im neuen Semester unterrichten werden können, wissen wir jetzt noch nicht. Die Aktivistinnen und Aktivisten haben bei den Protesten gegen die Regierung in den letzten neun Monaten aber sicher mehr gelernt als in einem Seminar. Auch in etlichen Gymnasien auf dem Land wurde monatelang gestreikt. Jene, die das Gymnasium abgeschlossen haben, konnten vergangene Woche ihre Aufnahmeprüfungen für die Unis absolvieren. Mit ihnen kommt eine neue Generation von mobilisierten, aktiven Studierenden an die Unis.
Was ist Ihre persönliche Prognose: Wie sieht die Zukunft Serbiens aus?
Serbien befindet sich an einem Wendepunkt. Die Regierung droht mit noch mehr Repressionen, Vucic spricht in martialischen Drohgebärden, die an ein «weissrussisches Szenario» erinnern, also an eine konsequente Niederschlagung der Protestbewegung. Aber die Serbinnen und Serben werden das nicht einfach so hinnehmen. Sie haben viele Jahre in Freiheit gelebt, orientieren sich am Westen. Entweder wird die Bevölkerung es schaffen, Neuwahlen zu erzwingen oder sie wird sich an den regulären Wahlen 2027 rächen. Eines ist sicher: Die Jugend, die bis anhin politisch desinteressiert war, ist jetzt mobilisiert. Und Vucic kann sie nicht mehr länger ignorieren.