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Interview: Sicherheitsexperte Nico Lange zum US-Daten-Leak

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Sicherheitsexperte zum US-Daten-Leak: «Die Russen werden fragen: Woher wissen die das?»

Der Russland- und Ukraine-Kenner Nico Lange spricht im Interview über die Folgen des Datenlecks für die ukrainische Frühjahrsoffensive, über das grausame Enthauptungsvideo und ein Russland nach Putin.
15.04.2023, 08:08
Fabian Hock / ch media
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Ein junger Mann mit Zugang zu streng geheimen Ukraine-Infos hat in dieser Woche Dokumente der US-Regierung geleakt. Kann diese Veröffentlichung den Kriegsverlauf beeinflussen?
Nico Lange:
Nein, da ist nichts dabei, das den Kriegsverlauf verändern könnte. Die Informationen sind nicht überraschend. Dass die Ukrainer Probleme beim Nachschub von Munition haben, ist bekannt. Ein grosses Problem ist es aber für die Amerikaner. Die müssen sich fragen, warum so viele Menschen Zugang zu solchen Informationen haben. Offenbar ging es bei diesem Leak um Wichtigtuerei eines jungen Mannes. Noch schlimmer wäre es gewesen, wenn es sich um eine gezielte Spionageoperation gehandelt hätte.

FILE - An aerial view of Bakhmut, the site of heavy battles with Russian troops in the Donetsk region, Ukraine, on March 26, 2023. Russian threats to nuke Ukraine. China?s belligerent military moves a ...
Luftbild aus Bachmut, aufgenommen am 26. März 2023. Die Stadt bleibt umkämpft.Bild: keystone

Wie kann es sein, dass solche sensiblen Dokumente an die Öffentlichkeit gelangen?
Die Frage ist, wer darauf Zugriff hat und warum. Dass jemand massenweise geheime Dokumente fotografiert und abdruckt, wäre für jeden Staat ein Problem.

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Wie gross ist der Schaden für den US-Geheimdienst?
Es ist zunächst einmal peinlich. Aber es gibt auch einen konkreten Schaden: Bei einigen Informationen, die nun in die Öffentlichkeit gelangt sind, werden sich die Russen fragen: Woher wissen die das? Wo werden wir abgehört? Wo gibt es menschliche Quellen? Wenn Russland hier Rückschlüsse ziehen könnte, wäre das ein echtes Problem. Auch die Chinesen werden sich das genau ansehen.

Die US-Geheimdienste sind für die Ukraine überlebenswichtig. Werden Kiew und allenfalls andere Verbündete jetzt zurückhaltender mit dem Teilen von Informationen sein?
Die Ukraine profitiert davon, dass sie Informationen von den USA bekommt. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Ukraine besonders freigiebig damit ist, eigene Informationen zu teilen. Für die Ukrainer ist klar, dass sie restriktiv sind und bleiben werden. Vor allem, wenn es um die anstehende Frühjahrsoffensive geht.

Nico Lange …
… ist Senior Fellow der Zeitenwende-Initiative der Münchner Sicherheitskonferenz. Er war 2019 bis 2022 Leiter des Leitungsstabs im deutschen Bundesministerium der Verteidigung. Lange lebte und arbeitete er zuvor lange in der Ukraine und in Russland, er spricht fliessend Ukrainisch und Russisch.

Von den Aussichten dieser kommenden Frühjahrsoffensive zeichnen die US-Papiere ein düsteres Bild. Sind die Chancen der Ukrainer wirklich so schlecht?
Die Dokumente stammen aus dem Monat März und geben den Stand der Dinge im Februar wieder. Der Nachschub an Munition für die Luftverteidigung und die Artillerie ist ein Problem. Dass es auf die Erhöhung der Produktionskapazitäten ankommt, ist bekannt. Meiner Einschätzung nach braucht vor allem die Ausbildung der Ukrainer im Umgang mit den westlichen Waffensystemen noch Zeit. Sie müssen besser trainiert werden. Aber es ist auch klar: Wenn man der Ukraine nicht liefert, was sie braucht, muss man sich nicht wundern, wenn sie Defizite hat. Wir müssen den Ukrainern liefern, was sie für ihre Offensive benötigt, zum Beispiel Waffensysteme mit höheren Reichweiten.

«Man muss jetzt etwa damit beginnen, Piloten zu trainieren.»

Worauf kommt es an, dass die Offensive der Ukraine zum Erfolg wird?
Auf die Ausbildung. Die Übung im Gefecht der verbundenen Waffen ist entscheidend. Die Ukraine braucht neben den Kampfpanzern auch sehr viel Ausrüstung, das man nicht sofort im Blick hat. Minenräumgeräte zum Beispiel. Neben den Waffen mit höheren Reichweiten und der Munition stellt sich auch die Frage, wie man Luftunterstützung sicherstellen kann. Die Ukrainer werden hierfür sehr viele kommerzielle Drohnen einsetzen. Und es stellt sich die Frage nach Kampfflugzeugen. Man müsste über F-16 reden.

Über F-16 Jets reden: Das heisst, der Westen müsste liefern.
Noch gibt es keinen Anwendungsfall für diese Flugzeuge. Aber wenn den Ukrainern an einigen Stellen an der Front ein Durchbruch gelingt, dann braucht es Luftunterstützung aus mittleren Höhen, um weitere Gebiete zu befreien. F-16 könnten dazu beitragen. In jedem Fall muss man jetzt die Voraussetzungen schaffen und nicht den Fehler der ersten Kriegsmonate wiederholen, indem man wartet und zuguckt. Man muss jetzt etwa damit beginnen, Piloten zu trainieren.

Was wäre überhaupt ein Erfolg für die ukrainische Offensive?
Für die Ukraine kommt es darauf an, dass sie vom Abnutzungskrieg hin zu einer stärkeren Beweglichkeit kommt, um die Stärken der westlichen Waffensysteme auszuspielen. Den Krieg beweglich machen und dann sehen, an welchem Abschnitt der Front ein Durchbruch möglich ist.

«Für die Ukraine ist die Rückeroberung nicht nur legitim, sondern auch die Grundlage für einen nachhaltigen Frieden.»

Die Ukrainer verteidigen Bachmut immer noch, trotz riesiger Verluste. Ein Fehler?
Ich hielte es für problematisch, wenn die politische Überbetonung von Orten wie Bachmut Ressourcen verbraucht, die bei der Gegenoffensive besser eingesetzt wären.

Passiert das in Bachmut?
Schwer zu beurteilen. Wenn die Russen Bachmut nicht zerstören, dann zerstören sie andere Städte. Den Russen dort schwere Verluste zuzufügen, ist aus militärischer Sicht sinnvoll. Der Ukraine gelingt es derzeit, die Frontlinie zu halten und Kräfte für die Gegenoffensive aufzubauen. Die Russen machen zwar kleine Fortschritte, aber ihnen ist es nie gelungen, den Ring um Bachmut zu schliessen. Und selbst wenn Bachmut kontrolliert wird, wäre das keine strategische Veränderung des Krieges. Auch wenn es Russland propagandistisch ausschlachten würde: Man darf nicht meinen, wenn sie es nach zehn Monaten geschafft haben, eine kleine Stadt zu erobern, dann sei alles aus.

Am Ende könnte es auf die Frage hinauslaufen, was mit der Krim geschieht. Kann die Ukraine die Krim befreien? Und sollte sie es überhaupt versuchen?
Ich kann mich nicht erinnern, dass wir die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland anerkannt hätten. Für die Ukraine ist die Rückeroberung nicht nur legitim, sondern auch die Grundlage für einen nachhaltigen Frieden. Militärisch ist die Krim eine relativ exponierte Halbinsel mit begrenzten Zugangsmöglichkeiten. Die grösste Gefahr auf russischer Seite ist nicht die Eroberung, sondern das Abriegeln der Nachschubwege durch die Ukrainer. Wenn sie das schaffen, wird es schwierig. Und es wird die Gesprächsbereitschaft Russlands erhöhen. Wir sollten dabei nicht auf die Erzählung hereinfallen, es passiere irgendetwas ganz Neues und Schlimmes, wenn die Ukraine die Krim angreift. Es sind schon schwere Angriffe auf die dortige Luftwaffenbasis und auf die Schwarzmeerflotte geschehen. Eine Reaktion ist ausgeblieben. Russland hat nichts, mit dem es eskalieren könnte.

«China ist kein Verbündeter Moskaus, sondern verfolgt ganz eigene Interessen.»

Russland hat Atomwaffen, damit könnten sie sehr wohl eskalieren.
Man muss aufpassen, dass man daraus kein Totschlagargument macht. Dass jeder Widerstand sinnlos wäre, weil Russland Atomwaffen besitzt. Das ist nicht der Fall, die nukleare Abschreckung des Westens funktioniert. Russland benutzt das als Element der psychologischen Kriegsführung. Man muss sehen: Der Einsatz einer taktischen Atomwaffe wäre längst nicht der Sieg über die Ukraine, Russland hätte aber schwere Folgen zu ertragen. Wir sollten uns keine Angst machen lassen.

Wie wichtig ist China für den weiteren Kriegsverlauf? Was passiert, wenn sich Peking noch stärker hinter Putin stellt?
Die jüngsten Besuche und Gespräche haben gezeigt, dass China vor offener Unterstützung Russlands zurückschreckt, aber durchaus verdeckte Unterstützung leistet. Die Chinesen können kurzfristig nichts liefern, was den Krieg entscheidend beeinflusst. Sie haben aber durchaus Dinge, die die Russen zum Beispiel für die Waffenproduktion gut gebrauchen könnten. Aber es besteht derzeit keine Gefahr, dass China kriegsentscheidend eingreift. China ist kein Verbündeter Moskaus, sondern verfolgt ganz eigene Interessen. Nach dem Krieg wird Peking zum Beispiel am Wiederaufbau der Ukraine teilhaben wollen.

«Man kann jedem nur den Ratschlag geben, diese Videos nicht anzusehen.»

Die Woche ist ein grausames Video aufgetaucht, in dem russische Soldaten einem Ukrainer bei lebendigem Leib den Kopf abschneiden …
… Man kann jedem nur den Ratschlag geben, diese Videos nicht anzusehen. Sie haben traumatisierende Wirkung, auch für viele in der Ukraine. Die russischen Kriegsverbrechen, die Unmenschlichkeit der Russen wird aller Welt vor Augen geführt. Man kennt das von der Wagner-Gruppe. Das Video ist aber eine neue Dimension der absolut unmenschlichen Grausamkeit.

Was lösen solche Videos in Russland, aber auch im ukrainischen Militär aus?
Den Russen wird es nicht gelingen, die Ukrainer einzuschüchtern. Es wird deren Entschlossenheit eher verstärken. Die Russen betreiben Entmenschlichung. Bei Putin fängt das an, indem der sagt, es gebe eigentlich keine Ukrainer, das seien sowieso alles Nazis. Ich habe bislang leider auch keinen Russen gesehen, weder in Deutschland noch in der Schweiz, der sich davon abgrenzt.

Besonders in Deutschland, aber auch in der Schweiz kommen immer wieder Forderungen nach Friedensverhandlungen. Sie sind zum jetzigen Zeitpunkt strikt dagegen. Warum?
Es gibt ein Missverständnis, das viele Menschen pflegen: Wenn es Krieg gibt, streiten sich zwei, und es folgt der Aufruf: Ihr müsst euch jetzt einigen, ihr müsst das friedlich lösen. Da ist aber nicht das, was in der Ukraine passiert. Russland hat die Ukraine überfallen, die Ukraine verteidigt sich. Für sie geht es um die Existenz. Ich wundere mich, wie freigiebig Leute fordern, die Ukrainer sollten Teile ihres Landes abgeben und sich Folter und Vergewaltigung aussetzen. Putin setzt strategisch darauf, dass es bei uns Kräfte gibt, die die Ukrainer zu etwas drängen. Moskau erklärt fast täglich, dass man zu Verhandlungen bereit ist, wenn alle Forderungen erfüllt sind, auch zum Beispiel die völlig unsinnige Forderung nach der Denazifizierung. Die Leute, die unter diesen Bedingungen nach Verhandlungen rufen, beharren auf ihren Vorstellungen der Welt, die nicht der Realität entsprechen – zu Lasten der Ukrainerinnen und Ukrainer.

Kann man mit Putin über Frieden verhandeln?
Wenn man stark genug ist, ja. Wir kennen Putin nicht erst seit gestern. Er setzt sich nicht aus gutem Willen an einen Tisch. Man kann verhandeln, wenn man ihn durch eigene Stärke dazu zwingt. Putin führt Krieg, bis er merkt, dass er nicht mehr weiterkommt. Man muss Putin seine Grenzen aufzeigen. Wir sollten nicht auf seine Einsicht hoffen.

Kann die Schweiz eine Rolle bei möglichen Verhandlungen spielen?
In der Schweiz gibt es eine ganz eigene Diskussion über Waffen- und Munitionslieferungen, das muss die Schweiz intern ausdiskutieren. Sie hat aber eine Tradition, wenn es um die Orte solcher Gespräche geht.

Die Schweiz müsste Putin wegen des internationalen Haftbefehls sofort verhaften.
Fragen zur konkreten Verhandlungssituation kann man im Moment nicht beantworten. Man wird die Verhandlungen aber sicher nicht in Russland oder in Belarus führen können.

«Ich würde jedem davon abraten zu sagen, wenn Putin nicht mehr da sei, werde es noch schlimmer.»

Also war der Haftbefehl für Putin ein Fehler?
Es ist gut, dass der Haftbefehl erlassen worden ist, so ist die Verantwortung klar. Es geht um das internationale Recht. Der Haftbefehl ist notwendig.

Wie könnte ein Russland ohne Putin aussehen?
Ich würde jedem davon abraten zu sagen, wenn Putin nicht mehr da sei, werde es noch schlimmer. Es gibt in Russland viel Potenzial für eine positive Entwicklung. Nach zwei Jahrzehnten Aufbau eines totalitären Systems, wo viele das Land verlassen haben oder im Gefängnis sitzen, kann ich jeden verstehen, der den Kopf unten hält. Es gibt aber viele, die eine andere Vorstellung von Russland haben, das haben die Proteste nach den letzten Parlamentswahlen und auch zu Beginn des Krieges gezeigt. (aargauerzeitung.ch)

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26 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Holunder
15.04.2023 11:57registriert Oktober 2018
Sehr gutes Interview. Sachlich und Pragmatisch.
Solche Artikel dürft ihr gerne öfter bringen. 👍🏻
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FrancoL
15.04.2023 11:43registriert November 2015
Wer zum jetzigen Zeitpunkt nach Frieden ruft muss sich folgende Sätze zu Gemüte führen und eine Antwort formulieren;
“Ich wundere mich, wie freigiebig Leute fordern, die Ukrainer sollten Teile ihres Landes abgeben und sich Folter und Vergewaltigung aussetzen. Putin setzt strategisch darauf, dass es bei uns Kräfte gibt, die die Ukrainer zu etwas drängen."

Eine geteilte Ukraine wird nie zur Ruhe kommen, bis die Russen nicht die Ukraine von der Landkarte radiert haben.

Zudem, wer kann einer geteilten Ukraine wieder auf die Beine verhelfen?
Die RU sicher nicht.
Der Westen will nicht.
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TheRealSnakePlissken
15.04.2023 13:28registriert Januar 2018
Russen in Deutschland oder der Schweiz, die sich vom aktuellen Narrativ der russischen Führung abgrenzen, gibt es aber einige. Mir fällt gerade der Schriftsteller Wladimir Kaminer ein, der in dieser Angelegenheit kein Blatt vor den Mund nimmt.
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