Was war Ihre Reaktion nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine?
Ivan Krastev: Ich war im letzten Oktober in Russland, habe mit Leuten geredet, und mein Gefühl war, dass etwas passieren würde. Ich dachte aber nicht, dass die russische Armee bis nach Kiew vorstossen würde. Ich ging von einer begrenzten Operation im Donbass aus und dass Putin einen Coup gegen Wolodymyr Selenskyj orchestrieren könnte.
Ging Putin wirklich davon aus, dass er die Ukraine mit einem «Blitzkrieg» besiegen kann?
Für mich war immer klar, dass man Putin beim Wort nehmen muss. Er macht, was er sagt, zum Beispiel dass er keine antirussische Ukraine dulden und alles tun werde, um Präsident Selenskyj loszuwerden. Ich habe aber nicht erwartet, dass er so realitätsfremd sein und glauben würde, die gesamte Ukraine im gleichen Stil einnehmen zu können wie die Krim.
Sind Sie überrascht über die schlechte Verfassung der russischen Armee?
Ja, aber das heisst wenig, denn ich bin kein Militärexperte (lacht). Die russische Armee wurde technologisch aufgerüstet, aber in Syrien operierte sie nur aus der Luft und mit Spezialeinheiten. Die Modernisierung der Armee erfolgte nur teilweise, und die Korruption innerhalb des Regimes trug zum Versagen des Kommunikationssystems bei. Die Einheiten in der Ukraine benutzten ihre Mobiltelefone, wodurch die Amerikaner alles erfuhren.
Putin hat den Krieg mit einem Essay im letzten Juli vorbereitet, in dem er der Ukraine die Legitimation als eigener Staat absprach. Hat er diesen Text selbst geschrieben?
Ja. Er hat dafür selber recherchiert und Archivmaterial angefordert. Putin wollte die Geschichte so erzählen, wie er sie sieht. Deswegen ist er jetzt auch so frustriert und wütend. Er hat wirklich geglaubt, Russen und Ukrainer seien das gleiche Volk, und dass es sich bei Selenskyj und seiner Regierung um «koloniale» Eliten handle, durch deren Entfernung die Russen als Befreier betrachtet würden. Die Ukraine war für ihn einfach eine grosse Krim.
Das erstaunt angesichts der ukrainischen Geschichte, etwa dem Holodomor.
Fairerweise muss man sagen, dass er die Ukrainer nicht als einheitlich betrachtet. Er wusste vermutlich, dass man ihn in Lwiw nicht als Befreier begrüssen würde. Das gilt aber nicht für den Osten, inklusive Kiew und Odessa. Ich habe seinen Essay genau gelesen. Auf der ersten Seite schreibt er über die Mauer, die in den letzten Jahren zwischen Russland und der Ukraine errichtet worden sei. Das erinnerte mich an einen sehr wichtigen Aspekt.
Worum handelt es sich?
Wladimir Putin war ein KGB-Offizier und erlebte, wie die Sowjetunion kollabierte. Daraus entstand ein Gefühl der Schuld und des Selbsthasses. Hinzu kommt, dass er während der Gorbatschow-Zeit im Ausland stationiert war. Es ist schwierig, dramatische Veränderungen nachzuvollziehen, wenn man nicht im Land ist. Der Zerfall der Sowjetunion war für ihn ein Mysterium, das Ergebnis einer Verschwörung. Er hat den Vorgang nie richtig verstanden. Er hat jedoch die Wiedervereinigung Deutschlands miterlebt und die Kraft, die daraus entstanden ist. Deshalb die Metapher mit der Mauer.
Er vergleicht die Ukraine mit der DDR?
Es ist der Kern seiner Fehleinschätzungen. Putin hat alle Entwicklungen in der Ukraine in den letzten 30 Jahren missverstanden. Sehr interessant war auch seine Ansprache an das russische Volk nach der Anerkennung der Donbass-Republiken. Er sprach nicht wie ein KGB-Oberst, sondern wie ein General der Weissgardisten im Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution. Russland sei das grösste Opfer des Bolschewismus gewesen und die Ukraine von Lenin erschaffen worden. Es war eine vehement antikommunistische und sogar antisowjetische Rede. Das zeugt von einem beträchtlichen Wandel. Putin war früher nicht so. Er war ziemlich sowjetisch, nicht sehr nationalistisch. Das ist jetzt anders.
Wie ist es dazu gekommen?
Ich denke, es ist eine Folge seiner Isolation und der Tatsache, dass er mehr als 20 Jahre an der Macht ist und niemand ihm widerspricht. Er entscheidet nicht vollkommen allein, aber es gibt auch nicht mehr die kollektive Entscheidungsfindung wie einst im sowjetischen Politbüro. Dort war sogar Widerspruch möglich, etwa als Nikita Chruschtschow 1962 Raketen auf Kuba stationierte. Heute ist die Macht hochgradig personalisiert. Putin spricht mit anderen Leuten, aber die versuchen herauszufinden, was er von ihnen hören will.
Wie bei dem bizarren Treffen des Sicherheitsrats?
Das Zuschauen war schmerzhaft. Ich habe einige dieser Leute getroffen, das sind keine Idioten. Aber die Sitzung erinnerte mich an die stalinistischen Schauprozesse von 1937.
Warum führte er seine Leute dermassen in der Öffentlichkeit vor?
Es gibt drei mögliche Erklärungen: Putin wollte zeigen, dass es keine abweichenden Meinungen unter den höchsten Vertretern des Sicherheitsapparats gibt. Die zweite Erklärung ist wesentlich hässlicher: Keiner kann jetzt noch behaupten, er sei dagegen gewesen. Das hat kriminelle Züge. Man beschmiert ihre Hände mit Blut …
… wie in der Mafia …
… und drittens will Putin Geschichte schreiben. Es gibt viele Spekulationen über die Folgen der Corona-Isolation auf seine Gesundheit. Das ist unseriös, aber er benimmt sich nicht wie ein normaler Politiker. Früher ging er keine grossen Risiken ein. Er war kein Zocker. Jetzt habe ich das Gefühl, dass er dies für seine letzte Chance hält, vor allem wenn man die Ukraine als Teil des russischen Einflussbereichs betrachtet, ähnlich wie Belarus.
Was hat ihn dazu bewogen?
Die Zeit arbeitet gegen ihn. Immer mehr Ukrainer sprechen kein Russisch mehr. Das russische Fernsehen wird nicht mehr ausgestrahlt. Die Ukraine wird sich in den nächsten Jahren weiter modernisieren. Hinzu kommt seine spezielle Sicht auf den Westen. Auch da muss man ihn beim Wort nehmen. Er hält den Westen für dermassen dekadent, dass man verhindern muss, dass er die russische Gesellschaft «infiziert». Deshalb hatte Putin das Gefühl, er müsse handeln.
Darum hat Putin auch eine so grosse Anziehungskraft auf die populistische Rechte in Europa. Sie betrachtet ihn als Retter der christlichen Zivilisation.
Das wird jetzt schwierig. Er behauptet, sich für klassische europäische Werte einzusetzen. Dabei ist Russland selbst nicht durchweg konservativ. Es ist kein «Bibelgürtel», sondern eine ziemlich permissive Gesellschaft. Ausserdem ist die äussere Rechte traditionell antisowjetisch, etwa die Republikaner in den USA. Putin ist nicht ihr natürlicher Verbündeter. Und schliesslich beschädigt diese Krise sein Image der Unbesiegbarkeit. Er galt als einer, der alles erreichen kann, und jetzt sieht man diesen 60 Kilometer langen Konvoi, der nicht vom Fleck kommt.
Man hielt ihn für ein strategisches Genie …
… und jetzt wird er zur Karikatur seiner selbst. Gleichzeitig wird ein jüdischer Komiker zur Verkörperung des Widerstands einer Nation. Das fasziniert mich total. Putin begründete den Einmarsch in die Ukraine mit dem Kampf gegen die Nazis und bezog sich dabei auf ein ruhmreiches Kapitel der sowjetischen Geschichte. Jetzt hält die Welt ihn für einen Nazi.
Sie haben die Orange Revolution in der Ukraine 2004 als wesentlich für Putins Entwicklung bezeichnet und sie sogar als «russisches 9/11» bezeichnet.
Putin war danach regelrecht besessen von der Vorstellung eines Regimewechsels. Es heisst, er habe stundenlang das Video angeschaut, das die letzten Minuten vor der Emordung des libyschen Diktators Muammar Gaddafi im Oktober 2011 zeigte. Einige russische Kollegen glauben, dies habe ihn dazu bewogen, 2012 erneut als Präsident zu kandidieren, statt dem damaligen Amtsinhaber Dmitri Medwedew eine zweite Amtszeit zu erlauben. Dieser hatte den Militäreinsatz in Libyen unterstützt.
Was ist mit der Nato-Osterweiterung? Putin betrachtet sie als Provokation durch den Westen.
Er hat nicht ganz unrecht. Aber auch der Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg war unfair gegenüber Deutschland, doch das rechtfertigt nicht, was danach geschah. Bei der Osterweiterung ging es nicht nur um Russland. Ich habe die damalige Zeit erlebt und war teilweise involviert. Viele haben vergessen, wie wichtig der Jugoslawienkrieg war. Die mitteleuropäischen Länder, die US-Präsident Bill Clinton 1995 um den Nato-Beitritt ersuchten, fürchteten eine ähnliche Entwicklung wie mit Serbien unter Slobodan Milosevic.
Die Osterweiterung war also kein aggressiver Akt gegenüber Russland?
Der Westen war in den 90er Jahren sehr darauf bedacht, Präsident Boris Jelzin nicht zu verärgern. Putin zog daraus den Schluss, dass es eine Art stillschweigende Übereinkunft gab, wonach Russland im postsowjetischen Raum machen kann, was es will. Zum Beispiel den Nato-Beitritt der Ukraine verhindern. Das widerspricht der Souveränität des Landes. Darauf beharren die Amerikaner, wobei in ihrem Fall auch Schuldgefühle mitspielen.
Was meinen Sie damit?
Die Amerikaner hatten sich sehr darum bemüht, die ukrainische Führung davon zu überzeugen, ihre Atomwaffen aufzugeben. 1994 war die Ukraine die drittgrösste Atommacht der Welt, sie besass mehr Sprengköpfe als China.
Sie haben erwähnt, dass Putin den Westen für dekadent hält. Offenbar hat er nicht mit einer derart heftigen Reaktion Europas auf die Ukraine-Invasion gerechnet.
Putin war nicht auf Sanktionen gegen die Zentralbank und den Swift-Ausschluss vorbereitet. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die öffentliche Meinung in Europa so stark reagieren würde. Sie hat die Politik zu diesen Massnahmen gezwungen. Gleichzeitig haben die Politiker, die in den letzten Monaten mit Putin sprachen, gemerkt, dass sie ihm nicht trauen können. Er hatte Emmanuel Macron versprochen, seine Truppen aus Belarus abzuziehen, und ihn schlicht angelogen. Putin hat geglaubt, die europäischen Regierungen seien schwach, und die Öffentlichkeit sei in vielen Dingen auf seiner Seite. In beiden Fällen lag er falsch.
Was ist mit der russischen Bevölkerung? Wie lange wird sie Putin noch unterstützen?
Es ist zu früh, um das zu beurteilen. Putin hat die Bevölkerung nicht auf diesen Krieg vorbereitet. Er hat wirklich geglaubt, er könne Kiew auf ähnliche Weise einnehmen wie die Krim. Jetzt setzt er auf Repression. Was in Russland geschieht, ist einfach furchtbar. Wer eine Erklärung gegen den Krieg unterzeichnet, kann für 15 Jahre ins Gefängnis wandern.
Was ist mit den Wirtschaftssanktionen?
Sie treffen vor allem die urbane Mittelschicht. Es wird Zeit brauchen, bis wir sehen, wie die Bevölkerung sich verhält. Eines aber ist klar: Bislang glaubten selbst Gegner Putins, mit Ausnahme der radikalen Opposition, dass er zumindest in der Aussenpolitik weiss, was er tut. Jetzt stellen sich die Leute Fragen. Und die Regierung kann nicht erklären, was sie tut. Die Soldaten in der Ukraine wissen das selbst nicht. Ein Antrieb für Putin war wohl, dass die US-Regierung im Vorfeld der Invasion ihre Geheimdienstinformationen offen gelegt hat.
War das eine gute Entscheidung?
Ja, aber sie hat ihn vielleicht dazu bewogen, nach Kiew vorzustossen. Ihm kamen zwei wichtige Dinge abhanden. Das erste ist die Überraschung. Ausserdem inszeniert er sich gerne als Opfer. Das funktionierte jetzt nicht. Ich kann mir vorstellen, dass er deswegen so wütend war, dass er den Angriff auf Kiew befahl.
Wie beurteilen Sie die Rolle der USA? Der Titel Ihres Vortrags in Zürich bezieht sich auf Europa in der «post-amerikanischen Welt». Gilt das immer noch?
Ich beziehe mich darauf, dass Europa für die USA ein Nebenschauplatz ist, wenn auch jetzt gerade ein ziemlich wichtiger. Ihr Augenmerk richtet sich auf Asien und vor allem auf China. Darin sind sich Demokraten und Republikaner einig. Ich sehe hier auch einen Aspekt dieser harten Sanktionen gegen Russland. Die Strategie der Amerikaner lautet «Wenn wir die Ukraine vielleicht nicht retten können, wollen wir zumindest Taiwan retten». Die Chinesen sollen sehen, welche wirtschaftlichen Konsequenzen ein Angriff haben wird.
Wladimir Putin und Xi Jinping zelebrieren eine Art Bromance, aber für China muss der Angriff auf die Ukraine ziemlich verstörend sein.
China folgert daraus, dass die USA sich nicht auf ihr Land fokussieren sollten. Das finden sie okay. Allerdings funktioniert ihr zentrales Konzept der Souveränität nicht mehr. Darauf basiert die Ein-China-Politik. Das grösste Problem aber ist, dass China im Gegensatz zu Russland für die Weltwirtschaft sehr wichtig ist. Dieser Krieg treibt die Deglobalisierung jedoch sehr viel schneller voran, als es China lieb sein kann. Die Chinesen haben Putin Loyalität zugesichert, aber sie hassen den Preis, den sie dafür bezahlen müssen.
Ist Putin verrückt geworden?
Ich mag solche Spekulationen nicht. Aber er wirkt sehr angespannt und fühlt sich in die Ecke gedrängt. Das ist gefährlich. Selbst wenn er verrückt ist, ist er ein Irrer mit Atomwaffen. Das macht es für die westlichen Länder schwierig, eine Strategie zu entwickeln. Putin ist nicht Milosevic.
Es sieht aber so aus, als ob Russland zu einem Kompromiss mit der Selenskyj-Regierung bereit ist. Die Aussenminister haben sich in der Türkei getroffen.
Beide Seiten haben nicht viele Optionen. Die Russen können die Ukraine immer noch zerstören. In Sachen Neutralität vermute ich, dass Präsident Selenskyj auf die Nato-Mitgliedschaft verzichten wird, nicht aber auf den EU-Beitritt. Seine enorme Popularität kann ihm helfen, Kompromisse zu finden. Sie ist auch der Grund, warum die Russen den Begriff Entnazifizierung gestrichen haben. Sein Sturz ist keine Option mehr.
Danach festnehmen und abführen.
Ja, die Atomkarte ist wahrscheinlich eine Drohung.
Aber was wenn nicht?
Was wenn er sich derart verrannt hat (innenpolitisch und aussenpolitisch), Russland militärisch und wirtschaftlich am Ende ist und ihm auch im Inland mächtige Kreise (u.a. Oligarchen aber auch Militärs und Geheimdienst) an die Gurgel wollen… ?!
Dann ist der Gedanke, dass dieser machtgeile Mensch mit Napaleonsyndrom sich einen „grossen“ Abgang schaffen will mit Eingang in die Geschichtsbücher.
Putin wird nicht in einem Gefängnis oder durch ein Attentat seines FSB enden wolle…