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Interview

Syrien: Wie steht es nach den Massakern um das Land?

Widows and mothers of war victims gather for Iftar, the fast-breaking meal, organized by local NGOs in the devastated Jobar neighborhood of Damascus, Syria, Friday, March 14, 2025. (AP Photo/Ghaith Al ...
Witwen und Mütter von Kriegsopfern beim Fastenbrechen in einer vom Krieg zerstörten Nachbarschaft in Damaskus, 14. März 2025.Bild: keystone
Interview

«Viele sehen in den Massakern eine Art Super-Gau»

Die Massaker an der alawitischen Minderheit erschüttern Syrien. Gleichzeitig geht es beim Wiederaufbau des Landes voran. Islamwissenschaftler Reinhard Schulze ordnet ein.
15.03.2025, 13:1515.03.2025, 14:04
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Am Donnerstag hat der Übergangspräsident Syriens, Ahmed al-Scharaa, in Damaskus eine Verfassung unterzeichnet, die für die nächsten fünf Jahre gelten soll. Al-Scharaa ist der ehemalige Anführer der islamistischen HTS-Miliz, die im Dezember den Diktator Baschar al-Assad gestürzt hatte.

In den vergangenen Tagen haben sich die Ereignisse in Syrien überschlagen: Ein Putschversuch, brutale Massaker an der alawitischen Minderheit und ein historisches Abkommen sind der neuen Verfassung vorausgegangen.

watson hat den Islamwissenschaftler Reinhard Schulze gefragt, wie er die Ereignisse einordnet.

Vergangenen Donnerstag sind bei Massakern gegen Alawitinnen und Alawiten Hunderte Menschen getötet worden. Wer ist für die Pogrome verantwortlich?
Reinhard Schulze:
Das will die Übergangsregierung unter Ahmed al-Scharaa im Augenblick feststellen. Sie hat dafür eine Untersuchungskommission eingesetzt. Nach allem, was wir wissen, gibt es viele verschiedene Gruppierungen, die sich am Massaker beteiligt haben.

Reinhard Schulze vom Institut fuer Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie der Universitaet Bern, aufgenommen am Donnerstag (14.10.10) in Berlin bei einer Pressekonferenz zur Bekanntgabe ...
Reinhard Schulze ist Islamwissenschaftler und emeritierter Professor der Universität Bern.Bild: AP dapd

Von welchen wissen wir?
Wir haben es auf der einen Seite mit militanten Dschihadisten zu tun, die vom Regime enttäuscht sind, weil sie das Gefühl haben, dass ihre Vision einer neuen ultrareligiösen Ordnung in Syrien nicht erfüllt wird. Auf der anderen Seite waren abtrünnige militärische Formationen der HTS beteiligt, also der jetzt tragenden Staatsorganisationen in Syrien. Dazu kommen wahrscheinlich noch Agents Provocateurs, also Agenten, die eigentlich den alawitischen Milizen, also den Assad-Loyalisten angehören. Einige dürften das Momentum genutzt und gesagt haben: Wir verkleiden uns jetzt als Regierungsangehörige und gehen dann gegen unsere eigenen «Landsleute» vor, um den neuen Staat zu destabilisieren. Man kann aber nicht ausschliessen, dass auch Sicherheitskräfte des aktuellen Regimes aktiv daran beteiligt waren. Insgesamt gehe ich aber nicht von einem geplanten Vorgehen der Übergangsregierung gegen die alawitische Gemeinschaft aus.

Zur Person
Reinhard Schulze, 1953 geboren, war bis 2018 Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern. Bis 2023 leitete er das Forum Islam und Naher Osten an der Universität Bern. Sein Buch «Die Geschichte der Islamischen Welt» wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

Wie hat die Zivilbevölkerung auf die Massaker in Westsyrien reagiert?
Sie verurteilt die Massaker an den Alawitinnen und Alawiten weitgehend. Nicht die Dschihadisten natürlich, aber die grosse Mehrheit der Bevölkerung. Viele sehen in den Pogromen auch eine Art Super-GAU für den Wiederaufbau der Gesellschaft. Das höre ich zumindest von meinen Freunden in Syrien und aus den Medien, die vor Ort nun wieder sehr aktiv sind.

Zuvor hatten Anhänger des gestürzten Diktators Baschar al-Assad Militärposten der Übergangsregierung angegriffen. Was passierte danach?
Es brach eine Art Panikstimmung aus. In Syrien herrscht eine grosse Angst, dass Assad es schafft, die Macht im Land wieder zu übernehmen. Mit den Angriffen der Assad-Loyalisten brachen alte religiöse Konflikte wieder auf und es folgten Rache- und Vergeltungsaktionen an den Alawiten und Alawitinnen. Die Sicherheitslage in Westsyrien war für einen oder anderthalb Tage derart zerstört, dass sich kein Mensch mehr sicher fühlen konnte.

«In Syrien herrscht eine grosse Angst, dass Assad es schafft, die Macht im Land wieder zu übernehmen.»

Den Massakern ging also ein Putschversuch voraus?
Ich denke, dass die Assad-Loyalisten tatsächlich glaubten, sie könnten am 6. März einen Putsch durchführen, zumindest in Westsyrien.

Wie ist die Lage in den betroffenen Gebieten im Moment?
Die Sicherheitslage in Westsyrien ist mehrheitlich wiederhergestellt. Die Leute gehen wieder auf den Markt oder zum Bäcker und schliessen sich nicht mehr zu Hause ein. Ob sich die Menschen längerfristig sicher fühlen, ist allerdings eine andere Frage. Die Alawitinnen und Alawiten haben keine Gewissheit, dass der Konflikt nicht morgen wieder ausbricht.

Was bräuchte es, damit sich die Menschen in Westsyrien wieder sicher fühlen können?
Entscheidend wird sein, ob die Regierung das Vertrauen der lokalen Bevölkerung durch eine sogenannte Übergangsgerechtigkeit zurückgewinnen kann. Die aktuelle Regierung müsste zeigen, dass sowohl die Zeiten des Assad-Regimes als auch die Massaker vom 6. und 7. März aufgearbeitet werden.

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Syrische Familien aus der alawitischen Gemeinschaft fliehen nach den Massakern in den Libanon, 11. März 2025.Bild: keystone

An den Massakern waren auch dschihadistische Milizen beteiligt. Wie stark sind diese Kräfte im Land?
Es gibt zwei, drei Nischen in Syrien, in denen diese Gruppen noch existieren. Diese Dschihadisten stellen zwar noch eine terroristische Bedrohung dar, ja. Aber diese kann auch genauso in Paris, Wien oder Bern existieren. Eine Bedrohung für das System, also den Staat an sich, sind sie für Syrien allerdings nicht mehr.

Im vergangenen Dezember haben HTS-Milizen das Assad-Regime gestürzt. Wohin steuert Syrien unter der neuen Übergangsregierung?
Der Übergangspräsident, Ahmed al-Scharaa, vertritt eine religiös-nationalistische Haltung. Nach Assads Sturz sagte al-Scharaa: Wenn in Syrien irgendeine Politik erfolgreich sein und die Gesellschaft abbilden möchte, dann muss sie religiös sein. Er sagt aber auch, dass es im Land viele verschiedene Religionsgemeinschaften gibt und dass Syrien deshalb keine islamische Republik sein kann. Er sieht sozusagen eine religiöse Republik vor, die den vielen religiösen Gemeinschaften genügend Raum zur Entfaltung bietet.

Sturz des Assad-Regimes
Nach über zehn Jahren Bürgerkrieg in Syrien stürzte die islamistische Miliz Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) im Dezember 2024 den diktatorischen Herrscher Baschar al-Assad in einer Blitzoffensive. Der Anführer der HTS, Ahmed al-Scharaa, erklärte sich nach dem Sturz zum Übergangspräsidenten. Er sicherte den religiösen Minderheiten in Syrien Schutz zu und versprach demokratische Wahlen.

Am Dienstag unterzeichneten die Übergangsregierung und die kurdischen Streitkräfte, die sich hauptsächlich im Nordosten des Landes aufhalten, ein Abkommen. Was macht dieses so geschichtsträchtig?
In diesem Abkommen werden Kurdinnen und Kurden zum ersten Mal zu syrischen Staatsbürgerinnen und -bürgern erklärt. Zuvor gab es nur Syrerinnen und Syrer oder Kurdinnen und Kurden. Ausserdem wird der kurdischen Bevölkerung eine gewisse Selbstverwaltung zugesprochen. Die Details sind noch auszuhandeln, aber letztendlich ist es wohl eine Win-Win-Situation. Das Abkommen schafft für die kurdischen Gemeinschaften in Nordostsyrien einen Sicherungsraum, den es so noch nie gegeben hat.

«Das Abkommen schafft für die kurdischen Gemeinschaften in Nordostsyrien einen Sicherungsraum, den es so noch nie gegeben hat.»

Beobachterinnen und Beobachter waren nach den Massakern besorgt, dass ein demokratischer Neuanfang in Syrien in weite Ferne rückt. Macht die am Donnerstag unterzeichnete Verfassung diesen wieder greifbarer?
Die Verfassungserklärung stellt tatsächlich eine neue Wendung dar. Das zehnseitige Dokument, das von einer kleinen Expertenkommission ausgearbeitet wurde, lässt aber die künftige Staatsordnung offen. Der Kurdenführer und das geistliche Oberhaupt der Drusen haben die Verfassungserklärung darum bereits abgelehnt. Sie kritisieren die mangelnde Bereitschaft des Regimes, die politische Autonomie der südsyrischen Drusengebiete und der kurdischen Nordostprovinz in der Verfassung festzuschreiben.

Syria's interim president Ahmad Al-Sharaa, center, prepares to sign a temporary constitution for the country in Damascus, Syria, Thursday March 13, 2025. At left, is Foreign Minister Asaad Hassan ...
Der syrische Übergangspräsident, Ahmed al-Scharaa, kurz bevor er die vorübergehende Verfassung in Damaskus unterzeichnet, 13. März 2025.Bild: keystone

Wie schätzen Sie die Chancen für einen demokratischen Neuanfang ein?
Ich bin überzeugt, dass ein Neuanfang davon abhängig ist, wie die Gesellschaft zu sich selbst findet. Er darf nicht einfach von der Staatsmacht durchgesetzt werden, es braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag. Die Syrerinnen und Syrer kennen den Staat entweder in Form einer Diktatur oder als Kolonialmacht. Die meisten haben die Erfahrung gemacht, dass der Staat ihnen feindlich gesinnt ist. Aber es gibt viele kluge und gut ausgebildete Menschen, die dieses System jetzt tragen können. Ein Viertel der syrischen Bevölkerung ist nach 2012 aus Syrien geflüchtet. Viele kehren jetzt aus Ländern zurück, in denen sie Teil einer globalisierten, demokratischen Gesellschaft waren.

«Die Syrerinnen und Syrer kennen den Staat entweder in Form einer Diktatur oder als Kolonialmacht.»

Wie könnte denn ein syrischer Staat konkret aussehen?
Ich glaube, der Föderalismus ist die einzige politische Zukunft, die Syrien hat, wenn es denn als fairer Staat überleben möchte. Der aktuelle Übergangspräsident al-Scharaa stellt jedoch eher das Gegenstück einer solchen Politik dar. Er hat einen ähnlichen Blick auf Syrien wie Erdoğan auf die Türkei: Er will das syrische Volk zentral verwalten und sieht einen gemeinsamen Ursprung.

Sie meinen, er vergisst damit die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen?
Das Denken in Grossgruppen ist eine sehr koloniale Vorstellung. In der Realität ist es eher so: Die Menschen in Syrien haben unterschiedliche Zugehörigkeiten, die je nach Umständen wichtig werden können. Wenn Sie in einem Dorf in Syrien leben, dann sind Sie Mitglied der Kommune, einer Familie, Sie sind aber auch Mitglied einer Konfessionsgemeinschaft und einer Sprachgemeinschaft, Sie sind Mitglied einer Erinnerungskultur und so weiter und so fort. Fixierungen auf eine bestimmte tragende nationale Identität, wie wir sie in Europa gerne ausformuliert haben, sind in Syrien so nicht gegeben.

Wo liegen die Herausforderungen für den Wiederaufbau des Landes?
Ein Problem sind die Interventionsinteressen aus anderen Ländern, zum Beispiel aus den USA, den Emiraten, Israel, Russland, Iran oder auch Europa. Ein weiteres Problem, das mit dem ersten zusammenhängt, ist die Propaganda, zum Beispiel aus Russland, Israel oder dem Iran, die auch im Westen übernommen wird.

epa11790497 A Syrian woman holds a portrait of her missing loved one during a protest march demanding justice for the detained and disappeared persons during the al-Assad regime, in Syria, in Idlib, n ...
Eine Frau in Idlib hält an einem Protestmarsch gegen die Gräueltaten des Assad-Regimes das Bild eines vermissten Angehörigen, 22. Dezember 2024. Bild: keystone

Können Sie ein Beispiel machen?
Die westliche Öffentlichkeit ist fixiert darauf, das aktuelle System in Syrien als islamistisch zu identifizieren. Damit verfällt sie in eine Schwarz-Weiss-Malerei, die der syrischen Bevölkerung überhaupt nicht hilft.

«Die westliche Öffentlichkeit ist fixiert darauf, das aktuelle System in Syrien als islamistisch zu identifizieren.»

Das müssen Sie genauer erklären.
Wenn wir in den Nahen Osten schauen, zum Beispiel nach Gaza oder Syrien, so sehen wir oft finstere Akteure am Werk: Dschihadisten oder Islamisten. Auf der anderen Seite sehen wir die Opfer, das sind dann meist entweder Christen, Alawiten oder Israelis etc. Durch das Täter-Opfer-Schema aber wird der Blick verstellt: Was wir nicht sehen können oder wollen, ist die arabische Bevölkerung in Gaza oder die arabische Bevölkerung in Syrien, die selbst eine politische Verantwortung für ihr eigenes Gemeinwesen hat. Und dass sie diese Verantwortung auch gerne übernehmen und tragende Institutionen schaffen will, die zum Beispiel gegen die Hamas oder gegen die HTS gerichtet sind.

Welche Rolle könnte Europa im Wiederaufbau Syriens spielen?
Europa sollte die zivilgesellschaftlichen Kräfte unterstützen. Wir müssen ihnen zeigen, dass sie mit dem Projekt des Wiederaufbaus von Syrien nicht alleine dastehen. Dafür braucht es auch finanzielle Unterstützung. Das Dumme ist nur, dass die rechte Politik in Europa genau die Legitimität der Zivilgesellschaft in Frage stellt und sie zurückstutzen will. Die Ansprechpartner für die syrische Gesellschaft werden in Europa gerade schwächer. Das ist eine denkbar unglückliche Situation für die Menschen in Syrien.

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Sturz der syrischen Regierung
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Sturz der syrischen Regierung
Syrer feiern auf dem Umayyad-Platz in Aleppo, Syrien.
quelle: keystone / omar sanadiki
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28 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Kermel
15.03.2025 13:53registriert September 2018
Sehr informative und nüchterne Einordnung. Gerne mehr solche ausführliche Interviews.
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    Air India zahlt nach Flugzeugabsturz an Opferfamilien

    Nach dem verheerenden Absturz eines ihrer Passagierflugzeuge hat Air India angekündigt, an die Familien der Todesopfer zunächst 250'000 Rupien (etwa 25'000 Euro) zu zahlen. Das Geld solle helfen, den sofortigen finanziellen Bedarf der betroffenen Familien zu decken, teilte die Fluggesellschaft auf X mit. Auch der einzige Überlebende unter den 242 Menschen an Bord erhalte das Geld. Die Summe soll demnach zusätzlich zu den 10 Millionen Rupien (100'570 Euro) ausgezahlt werden, die der Mutterkonzern Tata Group stellen will.

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